Eine Frage des Herzens
Dauer.« Sie hielt inne und sah Bernie an.
»Warum haben Sie mich nicht benachrichtigt?« Bernie stand auf.
»Ich habe daran gedacht, glauben Sie mir«, entgegnete Schwester Anastasia.
»Aber Sie haben es nicht getan.«
»Ich hatte von höherer Stelle die Weisung, es zu unterlassen. Wie ich bereits sagte, wurde Ihre Identität zuerst strikt geheim gehalten. Doch je häufiger Schwester Theodore kam, um nach James zu sehen, desto mehr wurde mir klar, dass seine Familie in irgendeiner Verbindung zur Kirche stehen musste oder zu unserem Orden. Eines Tages ist ihr der Name entschlüpft, und ich wusste natürlich, wer Sie sind.«
»Ja?«
Schwester Anastasia nickte. »Wir waren stolz auf Sie, Schwester Bernadette. Sie wurden Leiterin einer Schule in den Vereinigten Staaten, die einen hervorragenden Ruf genießt, und viele von uns träumten davon, eines Tages mit eigenen Augen die Blaue Grotte zu sehen, wo Ihnen die Muttergottes erschienen ist.«
»Die Grotte steht noch«, sagte Tom und dachte daran, wie hart er in den vergangenen Jahren gearbeitet hatte, um sie instand zu halten, wie er das Mauerwerk ausgebessert und immer wieder das Moos von den überschatteten Steinwänden entfernt hatte. Er dachte an die Worte, die Bernie in diesem Sommer in den Stein gemeißelt hatte, ein Zeichen, das sie schlussendlich zum Hier und Jetzt geführt hatte.
»Warum haben Sie mich nicht informiert«, fragte Bernie, »sobald Sie wussten, wer ich bin?«
»Schwester Eleanor Marie war, wie wir von Schwester Theodore erfuhren, sehr beharrlich, sehr überzeugend. Theodore erklärte, das wäre zum Nachteil aller Beteiligten. Sie waren außerstande, rechtliche Ansprüche auf Ihren Sohn zu erheben. Er war unserer Obhut anvertraut, und wir taten unser Bestes. Niemand konnte ahnen, dass sich keine Adoption ergeben würde.«
»Glauben Sie, dass Eleanor Marie es verhindert hat?«
Schwester Anastasia schüttelte den Kopf. »Nein, meine Liebe, das glaube ich nicht. Ich bin überzeugt, es lag an James selbst.«
»James? Aber er war noch ein Kind! Wie …«
»Seine Liebe zu Kathleen«, erwiderte Schwester Anastasia. Sie sah alt und zerbrechlich aus, aber ihre Stimme war kräftig, erfüllt von Wärme.
»Er brachte es nicht über sich, sie alleine zu lassen«, sagte Tom. Er kannte dieses Gefühl durch und durch. Aus all den Jahren, in denen er in der Academy Seite an Seite mit Bernie gearbeitet hatte. Und die Gelegenheit verpasst hatte zu heiraten, weitere Kinder zu haben, eine Familie zu gründen. Alles, was für ihn jemals gezählt hatte, war das Bedürfnis, Bernie nahe zu sein, so nahe wie möglich, auch wenn keine Chance bestand, dass mehr daraus würde.
Bernie wandte sich um und sah ihn an, und Schwester Anastasia musterte ihn ebenfalls mit ihren klaren, strahlenden Augen, als könnte sie geradewegs auf den Grund seiner Seele blicken.
»Genau«, flüsterte Schwester Anastasia. »Ganz genau, Thomas.«
»So sehr liebte er sie«, fügte Tom hinzu.
»Und daran hat sich bis heute nichts geändert, nehme ich an«, sagte Schwester Anastasia.
»Wo ist er, Schwester?«, fragte Bernie. »Wir werden ihn suchen.«
Tom erschrak, als Schwester Anastasia in die Tasche ihres Habits griff und einen zusammengefalteten Zettel herauszog. »Dort werden Sie ihn finden. Er arbeitet als Chauffeur, jeden Tag.«
»Das Greencastle Hotel?« Bernies Hände zitterten, als sie den Namen auf dem Zettel las.
»Ja, meine Liebe.«
»Wie erkennen wir ihn?«, fragte Tom.
Schwester Anastasia ging zur Bilderwand, überflog sie, bis sie ein bestimmtes Foto entdeckte, und entfernte die Reißzwecke. Dann nahm sie auch das daneben herunter.
Sie reichte Bernie eines der beiden Fotos, die es Tom hinhielt, so dass sie es gemeinsam anschauen konnten. Es war unverkennbar ihr Sohn, Thomas James Sullivan. Das Foto war vermutlich aufgenommen worden, als er ungefähr zwölf war. Er hatte die roten Haare seiner Mutter und Toms dunkelblaue Augen. Sein Gesicht war schmal, die Wangenknochen ausgeprägt wie die Bernies, er hatte Sommersprossen auf Nase und Wangen, warmherzige Augen und ein verspieltes Lächeln um die Lippen. Tom konnte den Blick nicht abwenden, und bei Bernie flossen wieder die Tränen.
»Hier ist noch eins, das Sie mitnehmen sollten.« Schwester Anastasia händigte Tom ein Foto von einem hübschen jungen Mädchen mit langen braunen Haaren aus, die ihm, zu einem Zopf geflochten, über die linke Schulter hingen; es hatte große Augen, die Tom an ein Reh denken
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