Eine Frage des Herzens
»Er wurde nicht adoptiert?«
Schwester Anastasia schüttelte den Kopf, und Bernie schrie auf. Die Wahrheit brach in Wellen über Tom herein, und er sah, dass Bernie wie erstarrt dasaß, während Schwester Anastasia sie mit unerschütterlicher Liebe und Mitleid betrachtete.
»Warum haben Sie uns sonst erwartet?«, gelang es Tom schließlich zu fragen. »Sie sagten, es gebe noch andere Gründe.«
»Ich habe im Lauf der Zeit einiges über Bernadette in Erfahrung gebracht. Ihre Identität wurde weitgehend geheim gehalten, solange sich James in unserer Obhut befand, aber nach zahlreichen Besuchen von Schwester Theodore stellte ich Fragen. Und erfuhr, wer Schwester Bernadette ist und wie sie in den Konvent kam. Eine Weile war ich überzeugt, dass die himmlischen Mächte, die sie in unseren Orden geführt hatten, sie schließlich auch hierherführen würden, auf der Suche nach James.«
Tom schwieg eine Weile und beobachtete Bernie. Sie war kreidebleich, die Augen voller Pein und Entsetzen.
»War etwas nicht in Ordnung mit ihm? Stimmt etwas nicht? Dachten Sie, deshalb hätte sie den Drang verspüren müssen, nach ihm zu suchen?«
Schwester Anastasia stand auf. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, umrundete sie den Schreibtisch und blickte aus dem Fenster in den Innenhof. Er war asphaltiert, Unkraut wuchs zwischen den Rissen, und an beiden Enden waren Basketballkörbe angebracht. Zwei große Plastikdreiräder standen linker Hand, und etliche Bälle lagen verstreut herum. Die Erkenntnis, dass die Kinder in diesem trostlosen Geviert spielten, traf Tom wie ein Schlag in die Magengrube.
»Was ich zu sagen habe, ist für alle Eltern schwer«, erwiderte Schwester Anastasia, ohne sich umzudrehen. »Sie haben die bestmögliche Entscheidung getroffen, das bezweifelt hier niemand. Aber ein Heim ist kein idealer Ort zum Aufwachsen. Sosehr wir jedes einzelne Kind lieben, es gibt nicht annähernd genug Betreuerinnen. Selbst wenn auf jeden unserer Zöglinge eine käme, was weit von der Realität entfernt ist, hätten die Kinder von St. Augustine’s unerfüllbare Bedürfnisse. Sie haben viel verloren, noch vor dem Schritt ins Leben.«
»Es war hart für James?«, fragte Tom.
Schwester Anastasia nickte. »Ja, das war es.«
»O nein.« Bernies mühsam bewahrte Fassung brach zusammen. Sie saß auf dem Sofa, barg das Gesicht in den Händen und schluchzte. Tom hätte sie gerne getröstet, sie in die Arme genommen, doch er war wie erstarrt. Er blickte auf den asphaltierten Spielplatz hinaus und war den Tränen nahe.
»Wie hat er es verkraftet?«, fragte Tom harsch. Er sah, dass Bernie bereits am Boden zerstört war – keine Antwort konnte schlimmer sein als die Vorstellungen, die ihr nun durch den Kopf gehen mochten.
»Er wurde und wird geliebt. Er ist sehr intelligent. Er schloss leicht Freundschaften. Er hat Charakter, war immer gutgelaunt, immer zu Streichen aufgelegt.«
»Er hatte gute Freunde?«, fragte Tom.
Schwester Anastasia nickte. »O ja, gewiss.«
Tom zuckte bei ihrem Ton zusammen und sah sie fragend an. Bernie war auf die Sofakante vorgerutscht, hatte den Blick auf Schwester Anastasia gerichtet und hing an ihren Lippen.
»Er war vor allem mit einem unserer Zöglinge befreundet. Von Kindesbeinen an.«
»Wie heißt er?«
»Es ist eine sie«, erwiderte Schwester Anastasia. »Kathleen Murphy. Die beiden waren unzertrennlich. Ihre Betten standen im Schlafsaal nebeneinander, und sie fühlten sich auf Anhieb zueinander hingezogen. Sie waren im selben Alter, besuchten dieselbe Klasse, hatten dieselben Interessen …«
»Hielt die Freundschaft?«, fragte Tom.
»Ja, lange.« Schwester Anastasia verstummte und kehrte zum Fenster zurück.
»Er hat hier seine ganze Kindheit verbracht?«, gelang es Bernie nach einer Weile zu fragen.
»Bis zum dreizehnten Lebensjahr«, antwortete Schwester Anastasia.
»Was geschah dann?«, wollte Tom wissen.
»Kathleen wurde von ihren leiblichen Eltern nach Hause geholt. James … nun, er konnte es nicht ertragen, ohne sie hier zu sein. Er verschwand.«
»Er lief weg?« Bernies Stimme klang hohl.
»Ja, meine Liebe.«
»Wohin?«
Schwester Anastasia schüttelte den Kopf. »Er hat es mir nie erzählt. Er kam wieder, in der Hoffnung, dass wir wüssten, wo Kathleen lebte. Ich gab ihm ihre Adresse, doch die Familie war weggezogen. James kehrte nach St. Augustine’s zurück – er hielt sich an ein Versprechen, das er mir gegeben hatte. Aber sein Aufenthalt war nicht von langer
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