Eine Frage des Herzens
zu träumen, genau wie er. Mir fehlt das Zeug, um Jura zu studieren, aber es gibt andere Möglichkeiten. Wir lernen hier viele einflussreiche Leute kennen. Vielleicht ist jemand darunter, der einen Job für mich hat.«
»Wir wünschen Ihnen alles Gute.« Bernie schüttelte ihm die Hand. Sie hatte in ihrer Schule viele junge Frauen ausgebildet, war nie müde geworden, sich ihre Träume anzuhören oder den Glanz in ihren Augen zu sehen, wenn sie sich ihre Zukunft ausmalten. Der Gedanke, dass Seamus seinen Freund angespornt hatte, sich hochgesteckte Ziele zu setzen, in seinen Träumen nach den Sternen zu greifen, ging ihr zu Herzen.
»Ja, viel Glück«, sagte Tom. »Und danke dafür«, fügte er hinzu, auf den Umschlag deutend. Beim Anblick des Briefes geriet Bernies Blut in Wallung. Vielleicht hatte Seamus es sich überlegt und wollte sie doch sehen, mit ihnen reden. Zugegeben, die Begegnung mit seinen leiblichen Eltern in Dublin war ein Schock gewesen, aber er schien ein aufgeschlossener junger Mann zu sein, und bestimmt interessierte es ihn, was sie zu sagen hatten.
»Keine Ursache«, erwiderte Kevin Daly, winkte ihnen noch einmal zu und verschwand durch den Personaleingang.
»Komm, Tom.« Bernie ergriff seine Hand und zog ihn zum Auto. Seamus hatte ihnen sicherlich seine Adresse mitgeteilt, und sie würden unverzüglich hinfahren und den Tag miteinander verbringen. Das Abendessen mit den Kellys mussten sie verschieben – oder vielleicht hatte Seamus Lust, mitzukommen. Ob das zu viel für ihn wäre? Es war zu viel und gleichzeitig nicht genug.
Tom hielt ihr die Tür auf, und sie stieg ein. Bernie sah zu, wie er um den Wagen herum zur Fahrerseite ging, und fragte sich, was seine düstere, verschlossene Miene bedeuten mochte. Normalerweise war er ein unverbesserlicher Optimist. Konnte er sich nicht vorstellen, dass Seamus das Ganze überschlafen hatte und zu dem Schluss gelangt war, sich heute mit ihnen zu treffen? Oder morgen …
»Gib mir bitte den Brief, ich möchte ihn lesen«, sagte sie, sobald Tom eingestiegen war.
»Bist du sicher, Bernie?« Er behielt den Umschlag in der Hand.
»Willst du nicht, dass ich ihn lese?«
»Ich … ich möchte verhindern, dass du verletzt wirst.«
»Wie kann er mich verletzen? Er ist mein Sohn. Ganz egal, was er auch sagt …«
Tom warf ihr einen langen, beinahe mitleidigen Blick zu, als wüsste er, wie sehr sie sich irrte. Wie hatte er ein solches Gespür entwickelt? Sie war seit Jahren auf der Hut gewesen, hatte ihren Habit wie eine Rüstung getragen. Doch nun schien der Schutzpanzer, die dicke Haut, die sie sich zulegt hatte, von ihr abgefallen. Sie saß auf dem Beifahrersitz, streckte die Hand aus und verlangte wortlos den Brief.
»Bitte lass mich zuerst einen Blick hineinwerfen.«
Widerstrebend nickte sie. Toms Hände zitterten, als er den Daumen unter die Lasche schob und den Umschlag aufriss. Er überflog die Worte schweigend. Bernie war nahe daran, vor Ungeduld den Verstand zu verlieren.
»Warum liest du den Brief nicht laut vor?«
»Ich kann nicht.« Er starrte die Seite an, eine kleine Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam.
»Was soll das heißen?«
Er wandte sich ihr zu und sah sie mit solcher Liebe und Verzweiflung an, dass ihr das Herz brach.
»Ich kann dir den Brief nicht vorlesen. Ich bringe es nicht fertig.« Er ließ zu, dass sie ihm das Blatt Papier aus der Hand nahm. Sie legte es auf ihren Schoß und las, was Seamus geschrieben hatte.
Sehr geehrter Mr. Kelly, sehr geehrte Ms. Sullivan,
Ihr Besuch gestern hat mich überrascht, gelinde gesagt. Ich kann nicht behaupten, ich hätte nicht gewusst, wer Sie sind, von der Minute an, als ich Sie im Hof stehen sah. Wie Sie bereits erwähnten, ist die Ähnlichkeit unverkennbar – die roten Haare, die blauen Augen. Doch das ist auch alles – eine oberflächliche Entsprechung physischer Merkmale. Sie wollen mir sicher nicht erzählen, dass rote Haare und Sommersprossen Menschen zu einer Familie zusammenschweißen. Denn das ist ein Trugschluss, wie ich aus eigener Erfahrung weiß.
Ich habe viele Erfahrungen gemacht, von denen Sie keine Ahnung haben. Schließlich habe ich mein ganzes Leben ohne Sie verbracht. Sie sagten, Sie hätten »jeden Tag an mich gedacht«. Ich kann nur sagen, das ist für mich ein schwacher Trost, wenn ich beispielsweise an die Zeit denke, als ich Windpocken hatte, genau wie alle anderen in St. Augustine’s. Ich habe mir die Haut blutig gekratzt, und die Nonnen
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