Eine Frage des Herzens
Tür des Kleiderschranks, aber er wusste bereits, was er vorfinden würde.
Ihr Habit war verschwunden. Er sah den leeren Bügel, auf dem er, das wusste er mit absoluter Gewissheit, gehangen hatte. Er legte die Kleider auf den Stuhl zurück und ging ins Wohnzimmer.
Die Einrichtung war noch genauso undefinierbar wie am ersten Tag – ein schmuddeliges, grünes Tweedsofa, ein Sessel mit kariertem Bezug, ein Tisch mit zwei Stühlen. Ihre Bibel und ihr Gebetbuch lagen auf dem Tisch, zusammen mit Seamus’ Brief.
Was fehlte, war das zusammengefaltete schwarze Stoffquadrat. Tom hatte es auf dem Tisch gesehen, als er Bernie gestern abgeholt hatte. Sie hatte kein Wort darüber verlauten lassen, und er scheute sich zu fragen. Er war einfach nur froh gewesen, den Schleier auf dem Tisch statt auf ihrem Kopf zu sehen.
Bernie trug wieder ihren Habit.
Er musste alle Hoffnungen und Pläne, die ihn beflügelt hatten, seit sie den Konvent mit den Informationen über ihren Sohn verlassen hatten, begraben. Sie wirbelten umher und zerstoben wie Sandkörner in einem letzten Windstoß.
Bernie wollte nach Hause zurückkehren, ins Star of the Sea. Er konnte sie nicht aufhalten, selbst wenn er gewusst hätte, wie. Wo immer sie sich gerade aufhalten mochte, es hatte nichts mit ihm zu tun. Er begann allmählich zu erkennen, dass es in ihrem Leben nur wenig gab, was mit ihm zu tun hatte.
Doch eine Sache hatte er noch zu erledigen, bevor er mit Schwester Bernadette Ignatius nach Connecticut zurückkehrte. Er steckte Seamus’ Brief in die Jackentasche, blickte sich ein letztes Mal um und schloss die Tür hinter sich. Seine Schritte hallten im Treppenhaus wider, als er hinunterging und auf die Straße hinaustrat. Er hatte den Brief, das Bild und die Postkarte von Kathleen dabei, und er wusste, was er zu tun hatte. Er war sich in seinem ganzen Leben nie sicherer gewesen, und er war überzeugt, dass das Leben von zwei Menschen davon abhing.
Nachdem Tom Bernie vor dem Apartment abgesetzt hatte, war sie die Treppe hinaufgegangen; jeder Schritt forderte seinen Tribut, ihre Beine waren bleischwer. Doch als sie den dritten Absatz erreicht hatte und das Telefon läuten hörte, begann sie zu rennen. Sie wusste, dass es verrückt war, aber vielleicht war es Seamus, vielleicht hatte er sie aufgespürt, seine Meinung geändert und beschlossen, sich noch einmal mit Tom und ihr zu treffen.
Zitternd steckte sie den Schlüssel ins Schloss, stieß die Tür auf, lief ans Telefon und hätte es um ein Haar fallen lassen, als sie den Hörer packte und ans Ohr hielt.
»Hallo?«
»Bernie«, meldete sich eine Frauenstimme.
»Honor?« Ihr Herz sank. Sie liebte ihre Schwägerin, aber es war nicht Seamus.
»Ja, ich bin’s. Wie geht es dir, Bernie? Habt ihr ihn gefunden?«
»Ach Honor …« Bernies Stimme brach. »Wir haben ihn gefunden. Es war unglaublich. Aber er will nichts mit mir zu tun haben – mit uns.«
»Bernie, es tut mir so leid.« Honor verstummte, als Bernie leise zu schluchzen begann. »Wie nimmt Tom es auf?«, fragte sie schließlich.
»Du kennst Tom. Er bemüht sich, meinetwegen stark zu sein, doch das macht es nur schlimmer. Ich sehe ihm an, dass er sich zusammenreißt, es zumindest versucht.«
»Für ihn war die Reise die Erfüllung eines Traums, das weißt du. Der Höhepunkt lebenslanger Träume, genauer gesagt …«
»Ich weiß. Wenn ich ihn anschaue, sehe ich, wie diese Träume in seinem Kopf herumspuken.«
»Er kann sie nicht verbergen, am wenigsten vor dir. Vermutlich würdest du das auch gar nicht wollen.«
»Was diesen Punkt angeht, bin ich mir nicht sicher«, erwiderte Bernie leise. Sie sah seine Augen vor sich, voller Leidenschaft und Hoffnung. »Wie geht es John? Und den Mädchen?«
»Uns geht es bestens. Wir denken sehr oft an dich – an dich, Tom und euren Sohn.«
»Sein Name ist Seamus. So möchte er genannt werden.«
»Nun, er hat drei Cousinen, die ihn liebend gerne kennenlernen würden. Du weißt, ein einziges Wort von dir genügt, und Regis, Agnes und Cece fliegen rüber und sagen ihm, wo’s langgeht.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen.« Bernie dachte an ihre drei unerbittlichen Nichten. »Wir sind heute Sixtus Kelly über den Weg gelaufen.«
»Herzliche Grüße, ja? Wie er sich um Regis gekümmert hat, das war einmalig. Er hat sie in allen Einzelheiten beraten und ermutigt, dem Richter genau zu erzählen, was passiert ist. Es geht ihr inzwischen richtig gut, Bernie. Tom kann stolz auf seine
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