Eine Frage des Herzens
hatten so viel mit der Pflege der erkrankten Kinder zu tun, dass sie mich nicht daran hindern konnten. Oder an die Zeit, als ich dauernd von Ungeheuern träumte, die durch die Lichtschächte an der Decke eindrangen, um alle Kinder im Heim zu töten. Oder an die Weihnachtsessen … Sie können sich sicher vorstellen, was ich meine.
Tatsache ist, dass Sie mich damals nicht wollten, und jetzt will ich Sie nicht mehr. Sie laufen etwas hinterher, was nicht existiert. Ich kann mir nicht vorstellen, warum Sie es überhaupt für eine gute Idee hielten, mich ausfindig zu machen. Vielleicht dachten Sie, ich müsse dankbar sein, dass Sie mir das Leben geschenkt haben. In diesem Sinne kann ich »danke« sagen. Danke, dass Sie mir das Leben geschenkt haben.
Wie ich über den Rest denke, wollen Sie bestimmt nicht wissen. Oder was ich darüber sagen könnte. Es ist kein bisschen kompliziert, sondern lässt sich ganz einfach zusammenfassen: Lassen Sie mich in Ruhe.
Wenn Sie den Brief lesen, wissen Sie, dass ich heute nicht zur Arbeit erschienen bin. Ich garantiere Ihnen, ich würde notfalls für den Rest meines Lebens blaumachen, um eine erneute Begegnung mit Ihnen zu vermeiden. Kehren Sie nach Amerika zurück, in Ihr schönes Zuhause, zu Ihren anderen Kindern, falls vorhanden, und dem Leben, das Sie in den letzten dreiundzwanzig Jahren ohne mich geführt haben.
Sie haben mich offensichtlich nicht gebraucht, und ich brauche Sie nicht. Wenn Sie wieder nach mir suchen, verschwinde ich. Es wäre nicht das erste Mal.
Leben Sie wohl.
Seamus Sullivan
Bernie las den Brief abermals, dann faltete sie ihn zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück. Sie spürte Toms Augen, die auf ihr ruhten, aber sie wusste, dass er keinen Kommentar von ihr erwartete. Sie hätte auch kein Wort über die Lippen gebracht, selbst wenn ihr Leben davon abhängig gewesen wäre. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie vom Rand der Klippen an der Westküste des Atlantiks in die Tiefe gestürzt. Sie saß reglos da, hielt den Brief in den Händen und war Tom dankbar, dass er sie nicht darauf hinwies, wie sehr sie sich geirrt hatte, als sie behauptet hatte, ihr Sohn könne sie nicht verletzen.
Ihre Augen brannten, Tränen liefen über ihre Wangen, doch nicht, weil sie verletzt war. Sie weinte nicht um sich selbst. Sie weinte um den hochgewachsenen, mageren jungen Mann mit ihren roten Haaren und Toms blauen Augen. Ihr Herz war gebrochen. Um seinetwillen.
14
T om hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, was er vorfinden würde. Er hatte Bernie vor ihrem Apartment abgesetzt, nachdem sie Seamus’ Brief gelesen hatten – nicht, weil er wollte, sondern weil sie kein Wort über die Lippen brachte, unfähig schien, die Gefühle und Gedanken zu offenbaren, die ihr im Kopf herumgingen, genau wie in seinem.
Alles, was sie ruhig und mit kaum hörbarer Stimme geäußert hatte, war: »Ich möchte nach Hause.«
»Nach Hause?« Es widerstrebte ihm, sie in das Apartment zurückzufahren, die kleine, sterile Studentenunterkunft ohne Aufzug am anderen Ufer des Liffey. Er stellte sich vor, wie die künftigen Bewohner dort nach und nach eintrudelten. Das Herbsttrimester begann, gespannte Erwartung lag in der Luft. Die Stimmen der jungen Erwachsenen zu hören war nicht gerade das, was Bernie jetzt brauchte.
Sie nickte, den Blick starr auf die Windschutzscheibe geheftet, weder nach rechts noch nach links sehend, als wäre sie außerstande, mehr als eine Information aufzunehmen.
»Wenn du sicher bist, Bernie«, sagte er. »Aber warum fahren wir nicht ins O’Malley’s? Wir reden … oder schweigen, wenn es dir lieber ist. Wir können ein bisschen Tir na Nog brauchen, findest du nicht? Dann vergeht die Zeit schneller, bis wir zu Sixtus zum Essen fahren.«
»Ich kann nicht.«
Er sah sie an. »Komm schon, Bernie. Es würde dir guttun. Uns beiden. Wir rücken die Dinge in die richtige Perspektive und fangen morgen wieder von vorne an. Wenn du unbedingt nach Hause möchtest, um dich auszuruhen oder nachzudenken, in Ordnung. Ich bringe dich zum Apartment zurück …«
»Nicht ins Apartment.«
»Nach Doolin?« Sein Herz klopfte. »Genau, das machen wir! Wir fahren an die Westküste, zu den Klippen. Bernie, ich bin bei dir. Es wird alles gut. Wir suchen unsere alte Frühstückspension und …«
»Du hast mich nicht verstanden, Tom. Ich möchte nach Hause.«
»In den Konvent?« Sein Herz drohte auszusetzen. Großer Gott, nein. Er wollte mit ihr zu den Klippen von Moher, ihr
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