Eine Frau - Ein Bus
sich Tims Familie, dass er erfolgreich war, doch nach Generationen bäuerlicher Armut war es in ihrer DNA verankert, davon auszugehen, dass er scheitern würde, und sie konnten nur hoffen, dass ihm dieser Kummer erspart bliebe. Für ein jüdisches Kind hingegen ist Scheitern, besser gesagt, alles, was unterhalb von grandiosem Erfolg liegt, von vornherein ausgeschlossen,
selbst wenn dies einige Lügen und Beschönigungen erfordert.
Als meine Cousine mit Mitte dreißig verkündete, sie heirate endlich, war ihre äußerst orthodoxe Familie völlig aus dem Häuschen vor Freude. Und ich auch, da ich wusste, wie sehr sie sich Kinder wünschte.
»Was macht ihr Verlobter beruflich?«, fragte ich meine Mutter.
»Oh, er ist in der Elektronikbranche«, antwortete sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. Später fand ich heraus, dass »in der Elektronikbranche« bedeutete, dass er als Verkäufer im Fotoladen in der 47. Straße arbeitete.
Nicht dass es für mich von Bedeutung gewesen wäre. Ich war nur so an diesen Erfolgsdruck gewöhnt, daran, mich ständig anzustrengen, einen guten Abschluss zu schaffen (ein Cousin von mir, der bereits Rabbi ist, hat bereits sieben - darunter einen Doktor in Medizin und zwei in Philosophie), dass ich die Einstellung von Tims Familie als befreiend empfand, so sehr sie ihn selbst auch ärgerte. Durch Tim fühlte ich mich mit Menschen verbunden, die in meinem früheren Leben stets als »anders« gegolten hatten. Und die Tatsache, dass ich eine Bindung zu Menschen außerhalb meiner eigenen kleinen vertrauten Welt aufbauen konnte, gestattete mir, mich von jenen Teilen meiner Erziehung zu trennen, die ich als erstickend empfand. (Ich ahnte ja nicht, dass ich mich im Lauf dieses Jahres auch noch mit einer Gruppe von Menschen verbunden fühlen würde, von deren Existenz ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal etwas wusste. Den »Camper-Leuten«.) Es ist ein echter Tribut an Tim, dass meine Eltern ihn so akzeptieren und ihn lieben, wie sie es tun. Sie nennen ihn den Wunder-Goj.
Während die Jungs also am Schloss herumspielten, lag ich wach im Bett - wieder einmal. Trotz des tagelangen Schlafmangels war ich viel zu aufgedreht, um Ruhe zu finden. Alles, was wir seit unserer Abreise aus Boulder erlebt hatten (ganz zu schweigen davon, dass mir inzwischen dämmerte, welche drastische Veränderung meines Lebensstils mir drohte), machte mich angespannt und nervös. Da mir nur noch ein paar Stunden bis zu Dorothys Geburtstagsbrunch blieben, um zu dösen, mischte sich auch eine Spur Verzweiflung darunter. Ich setzte mich auf den Küchenboden und durchforstete die Vorräte des Barschranks. Meine Erschöpfung hinderte mich daran, die Ingredienzien für einen Martini zusammenzusuchen. Ich brauchte etwas, das auch ohne viel Schnickschnack annehmbar schmeckte. In diesem Moment entdeckte ich meine Beute.
»Ah, Frangelico. Komm her, mein kleiner versauter Kuttenfreund«, säuselte ich. Ich entblätterte das Mönchlein so schnell, dass es nicht wusste, wie ihm geschah, trank den süßen, nussigen Nektar direkt aus der Flasche, ehe ich mit der anderen Hand seinen schokoladigen, wenn auch fälschlich benannten Kumpel Crème de Cacao (der gar nicht cremig ist. Wieso eigentlich?) packte und ihn als Ausputzer hinterherspülte. In diesem Moment kam Tim herein.
»Was tust du da?«, rief er und sah auf seine Uhr. Ich trinke nicht besonders viel. Am Wochenende mal einen Cocktail und das eine oder andere Glas Wein zum Essen, aber das war’s auch schon. Und jetzt: Noch nicht einmal Nachmittag, und ich war auf dem besten Weg, einen Schwips zu bekommen. Weg. Straße. Fahren. Oh Gott. Ich sollte mir gleich noch einen genehmigen.
»Schatz.« Behutsam löste Tim meine Finger vom Hals meines neuen Busenfreundes. »Es tut mir wirklich leid,
dass ich dich auf diese Reise mitgeschleppt habe. Diese Bus-Geschichte war meine Idee. Ich kann nicht fassen, dass ich dich dazu überredet habe. Ein Wort von dir, und wir blasen alles ab.« Mit einer Mischung aus Hoffnung und Besorgnis sah ich zu meinem Mann hoch. Er tut so viel für mich - alles , wenn ich ganz ehrlich sein soll. Mir war diese mangelnde Ausgeglichenheit immer schon bewusst gewesen. Nicht dass er sich je beschwert hätte (oder dass ich etwas an diesem Zustand hätte ändern wollen), aber hier ging es um etwas, das er sich von ganzem Herzen wünschte. Es war das Mindeste, was ich für ihn tun konnte, fand ich.
»Es ist dein Traum, und ich mache dir keinen Vorwurf daraus.
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