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Eine Frau - Ein Bus

Titel: Eine Frau - Ein Bus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doreen Orion
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sie und nicht auf mich?«, bohrte ich weiter. Eine durchaus berechtigte Frage, fand ich.
    »Das dürfte bei deinen beeindruckenden navigatorischen Fähigkeiten schwer zu erklären sein.« O.k., ich hatte es nicht besser verdient. Erst vor ein paar Stunden hatte
Tim mich Mr. Straßenatlas konsultieren lassen, um zu sehen, wie weit wir noch von Buffalo entfernt waren. Es war ziemlich verwirrend, die Ziffern inmitten der verwobenen Straßenlinien auszumachen. Stattdessen fand ich einen Maßstab am unteren Seitenrand und stellte fest, dass fünfzehn Meilen etwa einen Fingerknöchel ausmachten. »Okay, fünf mal fünfzehn macht fünfundsiebzig. Aber eigentlich ist es etwas weniger als fünf Knöchel. Also sind wir … zwischen vierzig und fünfundsiebzig Meilen von Buffalo entfernt«, erklärte ich fünf Fingerknöchel später. Tim verdrehte die Augen. In diesem Augenblick entdeckte ich die »Städteentfernungstabelle« am oberen Seitenrand. Wieso hatte Mr. Straßenatlas das nicht an eine übersichtlichere Stelle gegeben? Als könnte ich ahnen, dass sich in diesem Wust aus Karten auch nützliche Informationen verbargen. (Manchmal glaube ich, Mr. Straßenatlas gibt nur an. Aber Aufschneider kann keiner leiden, Freundchen!)
    »Hoppla«, kicherte ich.
    »Wie weit ist es noch?«, fragte er seufzend.
    »Ehrlich gesagt, nur noch zweiundzwanzig Meilen. Ich schätze, Fingerknöchel sind nicht die allerbeste Methode, um Entfernungen zu messen.«
    »Zumindest nicht deine«, murmelte der Kapitän.
    Wir schlossen uns dem vertrauten Kreis aus Wohnmobilen neben dem Wal-Mart an, um dort zu übernachten. Wie üblich war unser Bus der letzte, der am Morgen noch auf dem Parkplatz stand. Obwohl wir die Niagara-Fälle bereits kannten, konnten wir nicht widerstehen, ihnen noch einmal einen Besuch abzustatten. Diesmal bekamen wir die Fälle bei Nacht zu sehen, wo sie alle zehn Minuten in einer anderen Farbe beleuchtet werden. Ich fand das ziemlich
kitschig, aber Mr. Outdoorfan gefiel es. Doch als wir inmitten all der anderen Pärchen standen, die Händchen hielten (obwohl einige von ihnen lieber an ihren Mobiltelefonen hängen und sich ein Zimmer besorgen sollten), bemerkte Tim, er könne zwar die Schönheit der Wasserfälle erkennen, aber nicht nachvollziehen, was daran so wahnsinnig romantisch sein soll. Ich wette, er wäre lieber mit ihr hier als mit mir.
    »Wenn MapBreath so toll ist, wieso versuchst du nicht, sie zu überreden, ein Jahr mit dir in einem Bus zu leben?«, forderte ich ihn heraus.
    »Äh … das tut sie bereits, Schatz.« Oh ja.
    Ich kam recht schnell darüber hinweg. Ehrlich. Nur manchmal, wenn Tim verkehrt abbog, weidete ich mich noch an MapBreaths Verwirrung, daran, wie das Fragezeichen auf ihrem Bildschirm flackerte, wenn sie sich ihren kleinen metallenen Arsch wundrechnete.
     
    Den Rest unserer Zeit in upstate New York verbrachten wir auf einem rustikalen Campingplatz in Ithaca, wo ich in Cornell das College besucht hatte. Während meiner dreieinhalb Jahre dort (auch damals beherrschte ich schon die Kunst des Multitaskings) hatte ich nie Augen für den Glockenturm gehabt, der über den Großteil des Campus hinweg erkennbar ist. Es schien, als sei dies nur ein weiterer Beweis dafür, wie eingespannt ich während meiner Anfangsjahre als Studentin hier war und mit jedem Schlag der Uhr die Zehntel meines Notendurchschnitts gezählt habe. Obwohl ich jeden Tag daran vorbeigekommen bin, habe ich mir nie die Mühe gemacht hinaufzusteigen.
    Jetzt erklommen Tim und ich die 161 Stufen bis hinauf in den Glöcknerraum. Seit 1868 wird das einzigartige Instrument
(mit einundzwanzig Exemplaren das größte und am häufigsten gespielte Glockenspiel der Welt) von Studenten betrieben, die sich jedes Jahr um die Ehre rangeln, mit Händen und Füßen die mit hölzernen Hebeln ausgestattete Konsole zu bedienen - der Angriff der Mensa-Ninja-Freaks , wenn man so will. Es ist kein Wunder, dass diese Studenten sogar Sportpunkte für ihre Bemühungen kassieren. Sie beantworteten bereitwillig Fragen und spielten sogar Wünsche, auch wenn Stairway to Heaven nicht in ihrem Repertoire war. Nach der Anstrengung durch den Aufstieg, gefolgt vom spektakulären 360-Grad-Ausblick über den Campus, Ithaka und den Cayuga Lake war es schwer, sich auf die Musik zu konzentrieren.
    Von meinem Japsen nach dem Treppenaufstieg einmal abgesehen empfand ich es als Belohnung, endlich einmal oben gewesen zu sein: und zwar in Form von einem Extrabonus für meine Seele.

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