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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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gutgesinnten Menschen hätten sich heimlich entfernt. Nach etwa zehn Minuten erhob ich mich. Ich achtete darauf, daß ich die Tischdecke nicht verzog. Unterwegs rief ich Gudrun an und verabredete mich mit ihr für den Abend. Gudrun sagte, du arbeitest zuviel. Ich ging darauf nicht ein und erzählte ihr von Herrn Angelmaier. Das UNAUFHÖRLICHE erwähnte ich nicht, ich sagte nur, daß ich nicht bedient worden bin. Gudrun riet mir, ich solle mir bei einer der von den Gewerkschaften aufgestellten Gulaschkanonen einen Teller Erbsensuppe kaufen und dann zwei Stunden schlafen. Ich sagte ihr nicht, daß ich mich vom Geruch der Gulaschkanonen abgestoßen fühlte und schon den Anblick der breiigen Erbsensuppe nicht ertragen konnte. Zehn Minuten später betrat ich die Wohnung der Eltern. Vater war auf der Couch hingestreckt und schlief fest. Er gab keine Reaktion von sich, als ich das Wohnzimmer betrat. Mutter reinigte mit einem Staublappen die Blätter der Zimmerlinde. Beim Verlassen des Raums ging sie zu knapp am Wohnzimmertisch vorbei und zog die Tischdecke ein Stück weit herunter. Auch sie bemerkte ihr Mißgeschick nicht. Als es still geworden war, schaute ich zwischen dem schlafenden Vater und der verrutschten Tischdecke hin und her. Aus dem UNAUFHÖRLICHEN war jetzt eine Bedeutung geworden, die unaufhörlich vom Tisch zum Vater hinübersprang und wieder zurück. War der Vater das UNAUFHÖRLICHE, das sich endlich mit Hilfe einer verrutschten Tischdecke ausdrückte? Oder produzierte ich das UNAUFHÖRLICHE in meinem Kopf oder vielleicht nur in meinem Blick? Obwohl ich schlafen wollte, ließ sich die Unruhe meiner Aufmerksamkeit nicht stillstellen. Ich setzte mich auf einen Stuhl in der Nähe des Tischs und belauschte das UNAUFHÖRLICHE.
    Die Lagerarbeiter in der Spedition riefen mich inzwischen mit dem Nachnamen. Weigand, sagten sie, hast du eine Zigarette übrig? Oder sie sagten: Weigand, gibst du einen aus? Die Arbeiter erinnerten mich an einen Schmerz aus der Kindheit. Als ich ein Schulkind geworden war, nannten mich Kinder aus unserem Viertel, die mich zuvor jahrelang mit meinem Vornamen gerufen hatten, plötzlich beim Nachnamen. Weigand, zieh ab, sagten sie. Oder: Weigand, halt die Klappe. Vermutlich bemerkten die Arbeiter nicht, daß mich die Aufrufung eines für verschwunden gehaltenen Kinderschmerzes zusammenzucken ließ. Oder sie beobachteten heimlich meinen Schreck und hatten Vergnügen daran, mich momentweise aus meiner Zurückgezogenheit herauszuholen. Der Prokurist war einer der ganz wenigen in der Firma, die auf Form hielten. Obwohl er mich de facto wie seinen Diener behandelte, sagte er gerne: Herr Weigand, würden Sie bitte so freundlich sein... Oder: Herr Weigand, darf ich Sie bitten?
    Eine Woche später gab mir Herrdegen eine Eintrittskarte für ein Rockkonzert in der Stadthalle. Es spielten die LORDS, die ich nicht kannte und die mich nicht interessierten. Herrdegen wünschte ein Stimmungsbild, neunzig Zeilen, mehr nicht. Ich wollte etwa eine Stunde lang Eindrücke notieren und dann wieder gehen. Ich kann mir heute nicht mehr erklären, warum mich die eben sich ausbreitende Rockmusik nichts anging. Vielleicht ist der Grund dafür nicht einmal schwierig, sondern im Gegenteil ganz einfach. Seit dem Rausschmiß aus dem Gymnasium hatte ich im Eiltempo erwachsen werden müssen. Es ist gut möglich, daß mir bei dieser Vergewaltigung erhebliche Teile meiner Jugend abhanden kamen. Es wäre dann außerdem gut möglich, daß ich die Vergnügungen von Jugendlichen, denen das Steckenbleiben in der Jugend erlaubt war, nicht ernst nehmen konnte. Dabei war ich im Umgang mit anderen Menschen nicht streng, im Gegenteil, ich war offen und nachsichtig. Allerdings dachte ich streng, und strenges Denken ist die heimlichste und deswegen härteste Form der Strenge. Hunderte von Jugendlichen strömten zu den LORDS. Die Stadthalle war überfüllt. Tatsächlich waren die Leute, die hier herumhopsten, nicht älter als ich. Sie warfen das Haar nach hinten, sie schrien und lachten, sie tanzten und knutschten sich und verschütteten Bier. Ich ging an der linken Wand des großen Saals entlang und entdeckte am Bühnenende einen Pressetisch, an dem nur eine Person saß und ebenfalls Bier trank: Linda. Sie ließ mich fühlen, daß auch sie sich freute. Linda war wieder nicht geschminkt und nicht herausgeputzt. Der Pressetisch stand direkt an der Wand, ein wenig außerhalb des Lärmkanals. Linda kam von der Nordseeküste, sie sprach einen

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