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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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einmal erstaunt darüber, daß meine Erektion zurückging. Gudrun erhob sich und suchte nach ihrer Bluse und dem Büstenhalter. Ich rechnete damit, daß Gudrun in Tränen ausbrechen oder mich beschimpfen würde. Wahrscheinlich, dachte ich, wird sie dir gleich entgegenschreien, daß sie dich nie wieder sehen will. Erneut kam alles ganz anders. Gudrun blieb ruhig und sagte mit Dankbarkeit in der Stimme: Ich bin froh, daß du nicht nachgegeben hast, wir wollen uns die Zukunft nicht verderben. Wir setzten uns an den Tisch zurück und tranken die Weinflasche leer. Wenn ich mich nicht täusche, hörte jetzt auch Gudrun dem Radiogespräch zu.

2
    Mein Zweitberuf nahm immer mehr Zeit in Anspruch. Ich arbeitete inzwischen für alle drei Zeitungen, die in der Stadt erschienen. Das heißt, ich schrieb über eine Veranstaltung, je nach Auftragslage, zwei oder drei Berichte. Die Redakteure der Zeitungen wußten nichts von meinem Doppelspiel, und ich mußte aufpassen, daß ich mich nicht selber verriet. Die Berichte mußten zwar die wesentlichen Nachrichten enthalten, sie sollten sich aber dennoch so lesen, als seien sie von verschiedenen Verfassern geschrieben worden. Nach dem Ende eines Termins fuhr ich jetzt mit dem Taxi nach Hause, damit für meine Camouflage möglichst viel Zeit blieb. Dennoch reichten zwei oder drei Stunden Nachtarbeit oft nicht mehr hin. Wenn die Zeit knapp wurde, mußte ich am nächsten Morgen um fünf aufstehen und bis halb acht den dritten Bericht tippen. Es gefiel Vater, daß ich neuerdings immer öfter eine Eigenschaft (das Frühaufstehen) mit ihm teilte. Für die Arbeit, die ich machte, interessierte er sich nicht. Aber das zeitige Aufstehen war für ihn das Zeichen allerhöchster Seriosität. Während er sich anzog, öffnete er kurz die Küchentür und nickte mir voller Anerkennung zu. Ich verzichtete inzwischen auf das Frühstück, weil es mich zuviel Zeit kostete. Meine Mittagspause opferte ich jetzt fast vollständig für die Auslieferung meiner Manuskripte an die Redaktionen. Es blieben mir höchstens zehn Minuten Restzeit, die ich am Imbiß-Stand eines Kaufhauses verbrachte. Ich bestellte zwei Bockwürste und ein Brötchen und trank dazu eine Tasse Kaffee aus einem Pappbecher. Ich beobachtete die beiden Wurstverkäuferinnen und geriet trotz der Hetze wieder in eine zufriedene Stimmung. Obwohl sie immer wieder die gleichen Bewegungen ausführten, waren die beiden Wurstverkäuferinnen fast jeden Tag guter Laune. Sie kniffen sich gegenseitig in ihre dicken Oberarme und sangen zuweilen merkwürdige Lieder. Zum Beispiel: Camembert und kalte Füß’, das ist die Liebe in Paris. Dann mußten sogar einige Kaufhausbesucher kurz lachen. Für ein paar Augenblicke schien es, als gebe es überhaupt nichts Besseres in der Welt, als hier herumzustehen und eine Bockwurst zu verzehren.
    Es nahte der 1. Mai, und Herrdegen beauftragte mich mit der Berichterstattung über die Kundgebung der Gewerkschaft auf dem Marktplatz. Ich sollte ausführlich über die Reden der Gewerkschafter schreiben und außerdem ein paar Stimmungsbilder verfassen, die Herrdegen Kitschpfützen nannte. Zum ersten Mal durfte ich ein Großereignis von der Art besuchen, die sich gewöhnlich die Redakteure reservierten. Ich war nicht aufgeregt, als ich am 1. Mai gegen halb elf auf dem Marktplatz eintraf. Arbeiter in Sonntagsanzügen standen herum, tranken Bier und rauchten. Ringsum Tribünen, Fahnen, Lautsprecher, Luftballone, Arbeiterehefrauen und Kinder. Auf einer Bühne war ein mit Planen überdachtes Rednerpult aufgebaut, ein wenig seitlich davon zwei Pressetische. Das Ereignis galt als überregional, deswegen waren mehr Journalisten als üblich anwesend, unter ihnen drei junge Frauen, die ich nicht kannte. Bis die Reden einsetzten, ertönten Arbeiterlieder und Volksmusik. Immer mehr Kundgebungsteilnehmer, die meisten von ihnen Arbeiter, strömten aus den Seitenstraßen auf den Marktplatz. Augenblicksweise fürchtete ich, daß sich unter den Zuhörern der eine oder andere Lagerarbeiter aus der Speditionsfirma befinden und mich beim Prokuristen verraten könnte. Aber dann fiel mir wieder ein, daß ein Arbeiter nicht freiwillig den Mund aufmachte, schon gar nicht gegenüber einem hohen Chef. Von der Bühne herunter beobachtete ich ein Kind, das eine ganze Weile auf den Schultern seines Vaters herumgetragen worden war, jetzt aber zu weinen anfing, als es auf den Boden heruntergehoben wurde. In einer nahen Dachrinne paarten sich zwei Tauben.

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