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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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leicht friesischen Dialekt. Nach einiger Zeit hatte ich das Gefühl, daß sie sich hier, in einer süddeutschen Industriestadt, nicht wohl fühlte, aber ich traute mich nicht zu fragen. Wir saßen mit dem Rücken zum Lärm und sahen uns an. Beim zweiten Bier gab ich zu, daß ich in meinem Inneren Franz Kafka huldigte. Linda lächelte, als sie den Namen Kafka hörte. Es war, als hätte sie nicht sagen wollen: Kafka ist etwas für kleine Jungens. Der von ihr bevorzugte Autor war Joseph Conrad, von dem ich nur wußte, daß er über verrückte Kapitäne und tödliche Südseereisen geschrieben hatte. Gelesen hatte ich noch nichts von Conrad.
    Ach diese Seefahrergeschichten, machte ich.
    Die Seefahrt ist doch nur eine Metapher, sagte Linda.
    Wie meinen Sie das?
    Ich meine es konventionell, sagte Linda, eine Metapher steht für etwas anderes.
    Wofür?
    Bei Conrad ist das Meer ein Symbol für die Verschwisterung von Ehre und Pflicht, sagte Linda.
    Ich staunte und trank.
    Die Helden bei Conrad sind Männer, die ihre Pflichten lieben, weil sie ein ehrenhaftes Leben führen möchten, sagte Linda; aber niemand kann diesen Männern sagen, was Ehre und Pflicht eigentlich sind. Deswegen wissen sie auch nicht, was ein ehrenhaftes Leben sein könnte. Sie kennen nur das Verlangen danach, sagte Linda.
    Sie wollen sagen, sagte ich, Pflicht und Ehre sind nur abstrakte Größen?
    Genau, sagte Linda, und weil sie nur abstrakte Größen sind, kann man sie auch nicht erkennen, sondern nur fühlen, das allerdings immerzu, weil sie ohne Anfang und ohne Ende sind, wie das Meer.
    Ach so meinen Sie das mit der Metapher und dem Meer! rief ich aus.
    Das Wichtigste kommt erst noch, sagte Linda, nämlich die Art, wie Conrad das Problem der Nichtdarstellbarkeit literarisch gelöst hat. Vorher gehe ich aber aufs Klo.
    Linda stellte ihr Bierglas ab und verschwand. Ich sah abwechselnd hinauf zur Bühne und dann wieder über das wogende Durcheinander von Köpfen, Haaren und Schultern. Ich hatte mir bis jetzt kaum Notizen gemacht. Ich wußte nicht, was ich über dieses Auf und Ab von Körpern, über dieses Geschüttel von Armen, Händen und Knien schreiben sollte. Ungeduldig wartete ich auf Lindas Rückkehr. Unter den Jugendlichen erkannte ich einen früheren Mitschüler. Mit gestreckten Armen und gespreizten Fingern und offenem Mund schleuderte er seinen Körper um ein Mädchen herum. Eine halbe Minute überlegte ich, ob ich den Saal durchqueren und ihn begrüßen sollte, aber ich kam schnell wieder davon ab. Auch zwischen ihm und mir gab es ein Meer. Am rechten Rand des Saals drückte sich Linda entlang. Ich erschrak, als ich sah, wie schüchtern sie sich bewegte. Linkisch bis zur Verhaltenslosigkeit achtete sie darauf, daß sie nicht von tanzenden Paaren angerempelt wurde. Sie errötete, weil ich sie bei der Rückkehr zum Tisch anblickte. Sie griff nach ihrem Bier und sagte:
    Der Ort der Handlung ist bei Conrad die Pflicht, weil aber die Pflicht keinen festen Ort hat, verlegte Conrad den Ort der Handlung auf das Meer, in die ortlose Weite, in die pure und entsetzliche Unüberblickbarkeit.
    Ich nickte.
    Es war sehr klug von Conrad, sagte Linda, den Handlungsort aufzulösen, denn nur eine aufgelöste Pflicht kann zeigen, daß alle Pflichten endlos und formlos sind.
    Meine Bewunderung für Linda war inzwischen in Stummheit übergegangen.
    Man kann die Pflicht nicht fassen, man kann sie aber auch nicht aufgeben, sagte Linda.
    Die Jugendlichen um uns herum taumelten vor Glück oder Überwältigung oder Erschöpfung.
    Und weil die Männer bei Conrad ihre Pflicht nicht aufgeben können, sagte Linda, machen sie aus der Pflicht ihre Geliebte. Sie reden an das Meer hin wie an eine Frau, die niemals glauben mag, daß sie eine Geliebte geworden ist.
    Der Lärm im Saal war jetzt so stark geworden, daß eine Fortsetzung des Gesprächs unmöglich geworden war. Eine Kellnerin erschien und stellte noch zwei Bier auf unserem Tisch ab. Die Gitarren und die Drums dröhnten bis unter die Decke. Die Jugendlichen hatten aufgehört zu tanzen. Sie drehten sich nur noch um sich selbst und schrien dabei. Manchmal faßten sie sich an den Händen und verloren sich gleich wieder.
    Ich beugte mich zu Linda hinüber und fragte: Das ist nicht Ihr erstes Rockkonzert?
    Linda lachte und saugte die Schaumkrone von ihrem Glas herunter.
    Wissen Sie schon, was Sie über diesen Abend schreiben werden? fragte ich.
    So ungefähr, sagte Linda; über Veranstaltungen dieser Art kann man alles

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