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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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daß ich die Zusammenhänge nicht richtig verstand.
    Man hat ihm als Dank für die bloße Erwähnung der Namen diese Geschenke gemacht? fragte ich.
    Leider war es viel schlimmer, sagte Herrdegen. Angelmaier ging mit der Zeitung in der Hand zu den Firmen und hat gesagt: Was krieg ich denn dafür?
    Ach Gott, machte ich.
    Ja, ach Gott, wiederholte Herrdegen. Er drehte sich um und schaute gegen die Wand.
    Als er hier rausgeflogen war, wollte er Pressechef eines der Kaufhäuser werden, für die er vorher heimlich geworben hatte, sagte Herrdegen, aber dort wollte man ihn nicht. Bei den anderen Zeitungen war er erst recht unten durch. Herrdegen drehte sich wieder zu mir. Wir wollen natürlich auch nichts mehr mit ihm zu tun haben, sagte er, aber wir verstoßen ihn nicht ganz und gar. So kleine Schmucktexte von dieser Art – Herrdegen hob den Grünanlagen-Artikel ein bißchen in die Höhe – darf er noch schreiben.
    Gegen 16.00 Uhr tippte ich die letzten Sätze meiner Kundgebungsbeiträge zum 1. Mai. Herrdegen nahm die Texte entgegen und redigierte sie sofort. Der Hauptartikel sollte als Aufmacher den Lokalteil eröffnen. Herrdegen sagte mir, wieviel Buchstaben die Überschrift und wieviel Buchstaben die Unterzeile eines vierspaltigen Artikels haben durften. Danach gab mir Herrdegen einen Termin für den übernächsten Abend (ein Vortrag über New York im Deutsch-Amerikanischen Institut), dann war ich für heute entlassen. Ich überlegte, ob ich Gudrun anrufen sollte, aber ich war müde, beziehungsweise ich wollte nicht reden. Obwohl ich fast drei Stunden lang getippt hatte, fragte ich mich, was ich jetzt schreiben sollte. Ich brauchte Ruhe und Ablenkung. Zugleich sehnte ich mich danach, laufend neue Details über das ruhelose Leben der Menschen zu hören. Noch immer waren Arbeiter und ihre Frauen zu sehen. Sie ahmten ein feierliches Umherwandeln nach, das scheiterte, weil sie nur einmal im Jahr öffentlich umherwandelten. Ich sah ein Café mit scheußlichen Topfpflanzen in den Schaufenstern. Die Pflanzen lehnten auf halber Höhe gegen die Innenseiten der Fensterscheiben, so daß das Café aussah wie ein großes Aquarium, aus dem das Wasser abgelaufen war. Ich hoffte, daß das Café wegen dieser abschreckenden Dekoration nicht überfüllt sei. Aber ich täuschte mich. Zwischen Theke und Garderobenständer fand ich gerade noch einen freien Platz. Ich wollte schnell etwas essen und dann nach Hause gehen. Am Tisch neben mir saß eine komplette Familie. Ich betrachtete die Feuchtigkeit im offenen Mund der Kinder und die Trokkenheit im ebenso offenen Mund ihrer Eltern. Eine Kellnerin stand an der Theke und löffelte einen Teller Suppe aus. Ich wartete, daß sie mich anblickte, aber sie sah immer nur auf das Wischtuch herunter, das neben dem Teller lag. Eine Weile schaute ich verstimmt umher, aber dann ging mir auf, daß vom Übersehenwerden ein Reiz ausging. Ich saß da und betrachtete das Getümmel, dem ich nicht zugehörte, weil ich nicht bedient wurde. An beinahe jedem Tisch bewegte sich etwas Fremdes auf einen belanglosen Höhepunkt zu. Ein starker Eindruck entstand, wenn einzelne Gäste gezahlt hatten und ihren Tisch verließen. Fast jedesmal zog dabei jemand die Tischdecke halb herunter. Eine Küchenhilfe eilte herbei und schob die verrutschte Tischdecke wieder zurecht. Kaum war sie damit fertig, erhob sich an einem anderen Tisch ein anderer Gast und verzog ebenfalls die Tischdecke. Die Küchenhilfe sprang wieder hin und brachte auch diesen Tisch in Ordnung. Am eindrucksvollsten war vermutlich, daß keiner der aufbrechenden Gäste das von ihm verursachte Mißgeschick bemerkte. Ich versank in der Betrachtung der Vorgänge und nannte sie das UNAUFHÖRLICHE. Sollte ich das UNAUFHÖRLICHE beschreiben? Gab es das UNAUFHÖRLICHE überhaupt, oder hatte ich es soeben erfunden? War es möglich, das UNAUFHÖRLICHE isoliert zu beschreiben, oder war es ein Teil der Erfahrungsweise einer Romanfigur, die ich noch zu erfinden hatte? Drückte das UNAUFHÖRLICHE sich selbst aus, oder war es ein Symbol für etwas anderes? Mir fiel auf, daß ich allein war. Zum ersten Mal seit der Kundgebung dachte ich wieder an Linda. Mit ihr würde ich vermutlich über das UNAUFHÖRLICHE sprechen können. Die Kellnerin hatte endlich ihre Suppe gegessen, aber sie hatte mich noch immer nicht entdeckt. Obwohl ringsum viel Lärm und Unruhe war, wurde es in mir selbst immer stiller. Und wenn es längere Zeit still in mir war, begann ich zu glauben, die mir

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