Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
sehe sich in der Tradition von Jean Paul und Arno Schmidt. Den Namen Jean Paul hatte ich schon mal gehört, den Namen Arno Schmidt noch nicht.
Nur so, wie Arno Schmidt das vorgemacht hat, sagte Kaltenmeier, kann man heute noch einen Schelmenroman schreiben.
Linda nickte und schob sich näher an Kaltenmeier heran. Obwohl er vermutlich ein wenig betrunken war, blieben seine Sätze klar und eindrucksvoll. Linda und ich hörten ihm bis nach Mitternacht zu. Danach bestellte ich ein Taxi und fuhr beglückt nach Hause. Während der Fahrt war ich überzeugt, daß ich an diesem Abend zwei Schriftsteller kennengelernt hatte, von denen die anderen Menschen, die nicht in so begünstigten Verhältnissen lebten wie ich, bald sprechen würden.
Der Personalchef der Spedition steckte mich für einige Wochen in die Abteilung Registratur. Die Arbeit, die ich hier zu erledigen hatte, war die schlichteste der ganzen Firma; allerdings auch, in meiner besonderen Situation, die für mich passendste. Wegen meines inzwischen anstrengend gewordenen Nachtlebens als Reporter war ich dankbar für ein tagsüber ruhiges Bürodasein. Es gab jeden Tag Berge von Rechnungskopien, Ladelisten, Borderos, Telexen, Buchungsmitteilungen, Lohnlisten, Lagerbestandsmitteilungen, Schadensmeldungen und Briefen, die alphabetisch in die richtigen Ordner einsortiert oder wieder herausgesucht werden mußten. Ich arbeitete allein mit Frau Kiefer, einer etwa dreißigjährigen, stillen Frau. Unsere Schreibtische waren im Winkel von neunzig Grad einander zugeordnet, damit wir uns leicht zuarbeiten konnten. Für das Wort Telefon verwendete Frau Kiefer das damals schon veraltete Wort Fernsprecher. Der Prokurist mit der Klingel auf dem Tisch hatte in dieser Abteilung keinen Einfluß. Frau Kiefer mißbrauchte mich nicht als Laufbursche oder Hausdiener, im Gegenteil, sie fragte mich zuweilen, ob sie mir aus der Kantine etwas mitbringen oder ob sie sonst etwas für mich erledigen könne. Oft trug sie ein weinrotes Kostüm und eine hochgeschlossene weiße Bluse darunter. Mehrmals am Tag sah sie an sich herunter und sagte, daß sie seit der Schwangerschaft zugenommen hätte. Dabei stieß sie eine Sequenz belustigter Töne aus, die sie mit einem Seufzer beendete. Es war Frau Kiefer erlaubt (vermutlich, weil es in der Registratur keinen Publikumsverkehr gab), ihr Kind mit ins Büro zu bringen. Meistens dienstags und freitags krabbelte und rutschte ein etwa zweieinhalbjähriges Kind zwischen den Regalwänden umher und brachte ulkige Wortstöße hervor. Frau Kiefer sah mich dabei an und hatte es gern, wenn ich Vergnügen an den Anstrengungen ihres Kindes zeigte. Frau Kiefer freute sich auf den Betriebsausflug und den nächsten Urlaub mit ihrer kleinen Familie. Sie war mit einem Chemiewerker verheiratet, der sie gelegentlich von der Arbeit abholte. Dann hob sie ihm das plappernde Kind auf den Arm und sah dabei zu mir her, weil sie es auch gern hatte, wenn ich der Kindübergabe zusah. Schon nach ein paar Tagen behauptete ich, für die Berufsschule Tätigkeitsberichte tippen zu müssen. In Wahrheit schrieb ich neuerdings einen Teil meiner Zeitungsartikel in der Schutzzone der Registratur. Frau Kiefer war zwar meine Vorgesetzte, aber sie hatte nicht die Angewohnheit, plötzlich ihren Platz zu verlassen und um mich herumzugehen oder sich gar über mich und meine Arbeit herabzubeugen. Wegen eines Zwischenfalls war ich bei Frau Kiefer seit kurzem besonders gut angesehen. Ich brachte dem Chef der Exportabteilung die Kopie einer Zolldeklaration. In den Augenblicken, als ich das mit einer Glaswand vom übrigen Raum abgetrennte Büro des Exportchefs verließ, erlitt Herr Riedinger einen starken epileptischen Anfall. Ich hatte bis dahin nur undeutlich gewußt, was ein Epileptiker ist, aber jetzt sah ich, wie sich Herrn Riedingers Körper in wenigen Sekunden verkrampfte und wie Herr Riedinger dabei umfiel. Der eher schmächtige Exportchef und der als gehemmt geltende Herr Schäfer stürzten von ihren Plätzen hoch und versuchten, den sich am Boden wälzenden Herrn Riedinger festzuhalten, was ihnen nicht gelang. Der Exportchef gab mir die Anweisung, mich ebenfalls an der Ruhigstellung von Herrn Riedinger zu beteiligen. Ich nickte blöde und beugte mich hinab. Ich bog den seitlich weggedrehten Körper auf den Rücken und setzte mich in der Art eines Reiters auf Herrn Riedingers Brust. Dann klemmte ich ihm meine beiden Knie auf die Schultern. Eine Kontoristin setzte sich auf die Beine, die
Weitere Kostenlose Bücher