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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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eineinhalb Wochen in die Lehrfirma zurückkehrte. Jetzt beobachtete ich Frau Kiefers Kind, das trotz seiner Unbeholfenheit großes Vergnügen daran hatte, seine Mutter mit kleinen Eisportionen zu füttern. Auch die Mutter zeigte Zufriedenheit darüber, daß sie vom Kind gefüttert wurde. Es zeichnete sich ab, das Kind war bereit, seine ganze Portion Eis an die Mutter abzugeben. Von dieser eindrucksvollen Opferung ging plötzlich die Antwort auf meine Frage aus, wie es mit Frau Kiefer und mir weitergehen sollte: Es ging überhaupt nichts weiter, weil nie etwas angefangen hatte. Ich betrachtete die selbstverständlichen Bewegungen von Frau Kiefer inmitten ihrer kleinen Familie. Die Menschen brauchten von Zeit zu Zeit ein paar Abweichungen, damit sie um so unangefochtener in ihren Verhältnissen weiterleben konnten. Mein Erlebnis mit Frau Kiefer tauchte ab in eine angenehme Halbwichtigkeit. Herr Kiefer hob seinen Arm und legte seine Hand auf den Rücken seiner Frau. Ich sah, daß an seiner liebkosenden Hand zwei Finger fehlten, der Ringfinger und der kleine Finger, wahrscheinlich ein Arbeitsunfall. Ich hätte jetzt am Tisch der Kiefers Platz nehmen können. Zu Herrn Kiefer hätte ich sagen können, daß seine Frau zu den vielen Menschen gehörte, ohne deren Wohlwollen ich im Leben keinen Schritt weiterkäme. Weil ich schon längst in der Halbwichtigkeit aller Aufregungen angekommen wäre, hätte ich den Zynismus in meiner Bemerkung überhört. Herr Kiefer hätte mir zugestimmt. Er hätte nicht danach gefragt, wie ich das meine, weil er auf die halbfertigen Auffassungen von Lehrlingen prinzipiell nicht einging. Leider verlor sich die Stille um mich herum. Links von mir redeten zwei ältere Frauen darüber, daß die älteren Klobrillen aus Holz viel angenehmer waren als die neumodischen Klobrillen aus Plastik. Rechts von mir behauptete eine jüngere Frau, daß die Augenfarbe der Menschen mit zunehmendem Alter immer schwächer werde, bis hin zur vollständigen Farblosigkeit. Ich nahm meinen Präsentkorb, zahlte und ging. Bis zur Redaktion waren es von hier aus nur ein paar Schritte. Ich achtete darauf, daß mich die Kiefers beim Weggehen nicht bemerkten. Meinen Präsentkorb schenkte ich Fräulein Weber. Ich hob ihn aus der Plastiktüte heraus und stellte ihn auf ihrem Schreibtisch ab. Fräulein Weber war entzückt über mein Geschenk und küßte mich auf die Wange. Ich blieb eine Weile im Türrahmen stehen und betrachtete ihre erstaunliche Freude.
    Am Samstag abend gegen halb neun betrat ich den hellerleuchteten Bürgerbräu-Keller. Das Tiefgeschoß war Teil eines riesigen, mehrstöckigen Vergnügungslokals. Im Erdgeschoß befand sich ein Restaurant mit »gutbürgerlicher Küche« (so hieß es auf einer Tafel neben dem Eingang), im ersten Stock eine Nachtbar für »gehobene Ansprüche« (so stand es auf der gleichen Tafel), und im Keller gab es eine große Tanzfläche und eine Bühne für »volkstümliche Unterhaltung« (so lautete die unterste Zeile der Tafel). Der Keller war an diesem Abend der Schauplatz des vierzehntägig wiederkehrenden Je-ka-mi-Wettbewerbs. Je-ka-mi war eine Abkürzung für Jeder kann mitmachen. Tatsächlich durfte hier jeder, der von sich meinte, irgendetwas vortragen, singen oder zeigen zu können, die Bühne besteigen und anfangen. Die Abende waren in der Stadt sehr beliebt. Kein Tisch war mehr frei. Kellner trugen zusätzliche Stühle und Tische in den Saal. Auf der Bühne spielte eine Drei-Mann-Combo, einige jüngere Paare tanzten. Ringsum saßen feingemachte Kleinbürger und hielten Musikinstrumente und Noten in schweißnassen Händen. Sie hatten Angehörige und Freunde mitgebracht und ließen sich fortwährend beruhigen. Obwohl sie noch nicht aufgetreten waren, wurden sie von ihren Familien schon jetzt als die kommenden Stars behandelt. Ehefrauen und Töchter küßten sie im Vorübergehen und tupften ihnen die Stirn. Ich drängelte mich nach vorn zum Pressetisch, vier Kollegen waren schon da. Der Geschäftsführer begrüßte mich und übergab mir eine Liste mit den Namen der heute abend auftretenden Künstler. Eine Dame schenkte Sekt aus und fragte nach besonderen Wünschen. Der Geschäftsführer stieg auf die Bühne, die Combo verstummte, die Tänzer nahmen ihre Plätze ein, der Geschäftsführer begrüßte die Künstler und ihr Publikum. Fünf Sänger, drei Artisten, drei Zauberer und ein Humorist werden Sie heute abend unterhalten, sagte der Geschäftsführer. Er stellte die Jury vor, der

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