Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
er selbst angehörte. Außerdem ein Herr vom örtlichen Verkehrsverein, eine Dame von der Städtischen Musikschule, ein Herr vom Gaststättenverband und ein Dr. Soundso von einer Frankfurter Künstleragentur, den der Geschäftsführer als besonders fachkundig und einflußreich schilderte. Applaus brandete auf. Zuletzt präsentierte der Geschäftsführer den Conférencier, einen Herrn Frédéric, der in einem weinroten Smoking steckte und den Abend mit einer Darbietung als Tierstimmenimitator eröffnete. Seine Nummer war noch nicht zu Ende, da ließ der Türsteher am anderen Ende des Saals eine mittelgroße, scheue Frau eintreten. Es war Linda. Ihre Verspätung machte sie verlegen. Allein durchquerte sie den Mittelteil des Saals und errötete dabei. Am Pressetisch öffnete sie leicht den Mund und zeigte ihre kleinen Mäusezähne. Sie grüßte in die Runde, setzte sich neben mich, legte ihren Schreibblock vor sich hin. Sie beruhigte sich rasch und wurde blaß wie immer. Für die Tierstimmen-Nummer des Conférenciers gab es starken Beifall. Herr Frédéric kündigte die erste Darbietung des Abends an. Frau Anke Bünnagel, verheiratet, von Beruf Verkäuferin, siebenundzwanzig Jahre alt, betrat die Bühne. Ihr cremefarbenes Kostüm (mit Goldknöpfen vornedran) war ihr ein wenig zu groß. Ihr Ehemann trug ihr eine Gitarre hinterher. Frau Bünnagel wollte drei Schlager von Caterina Valente singen, aber schon beim zweiten Schlager erhob sich Gelächter im Saal. Sie sang das Lied Ganz Paris träumt von der Liebe, denn dort ist sie ja zu Haus . Das letzte Wort zog Frau Bünnagel derart in die Länge, daß es kläglich und jammervoll klang. Ich staunte mehr über den Hohn des Publikums als über das Mißgeschick von Frau Bünnagel. Linda war offenbar schon öfter bei Je-ka-mi-Abenden dabeigewesen und reagierte gelassen. Zum Vortrag des dritten Schlagers, Spiel noch einmal für mich, Habanero , kam es nicht mehr. Die Unruhe nahm tumultartige Formen an. Der Conférencier betrat von links die Bühne, dankte Frau Bünnagel und drängte sie ab. Im Augenblick, als er die Frau am Arm faßte und vom Mikrofon wegschob, erinnerte ich mich an Mutter. Als ich etwa zwölf Jahre alt war, wollte meine Mutter genau so sein wie Liselotte Pulver. Sie sah sich alle Filme von Liselotte Pulver an, manchmal nahm sie mich mit. In jedem Film war Liselotte Pulver lustig, zuversichtlich, schlagfertig, draufgängerisch, humorvoll und gewinnend. In allen Punkten war Mutter das krasse Gegenteil. Aber wenn sie aus dem Kino kam, wähnte sie eine halbe Stunde lang, sie hätte sich ihrem Vorbild wieder ein gutes Stück genähert. Erst zu Hause merkte sie, daß sie wieder nicht Liselotte Pulver geworden war. Genauso mundtot und verdutzt akzeptierte jetzt Frau Bünnagel, daß sie als Frau Bünnagel und nicht als Caterina Valente weiterlebte. Der Conférencier erzählte ein paar grobe Witze und machte das Publikum wieder aufnahmewillig. Der nächste Kandidat hieß Wolfgang Streibich (ich notierte den Namen) und hatte ebenfalls eine Gitarre dabei. Er war ein dreiunddreißigjähriger Busfahrer, war verheiratet und hatte zwei Kinder. Seine Frau saß im Publikum und drückte die Kinder halb ängstlich und halb stolz an sich. Streibich gab Freddy Quinn, und er gab ihn sehr gut. Er traf den Ton und er schaute genauso muttertagsselig umher wie der echte Freddy Quinn. Das Publikum machte keinen Mucks, und die Jury gab fünfmal die Höchstnote. Frau Streibich weinte vor Glück und umarmte ihren Mann. Dafür stürzte der nächste Künstler vollständig ab. Der Conférencier nannte seine Daten: Er hieß Albert Nüssen, zweiundvierzig Jahre alt, von Beruf Dekorateur, unverheiratet. Er trug eine großkarierte Jacke (wie Peter Frankenfeld) und eine Sonnenbrille. In der linken Hand hielt er ein Telefon (ein Hörer mit Apparat, aber ohne Kabel), in der rechten einen Liegestuhl. Es war nicht klar, was er zeigte, vermutlich war er der Humorist. Jedoch sang er zwischendurch auch, allerdings immer nur die ersten beiden Zeilen eines Schlagers, dann brach er ab. Vermutlich sollten diese Abbrüche schon lustig sein, aber die Leute lachten nicht, sie murrten und liefen teilweise weg, was Herrn Frédéric bereits beunruhigte. Dann holte er aus der Hosentasche eine Fahrradklingel und klingelte viermal. Mit offenkundig echter Entgeisterung nahm er hin, daß die Leute nicht lachten. Sie feixten über sein Ungeschick. Erst jetzt wurde deutlich, daß das Fahrradklingeln auf ein
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