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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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streckte beide Arme nach einer seitlich stehenden Schreibmaschine aus. Frau Herrdegen erhob sich und rückte ihren Stuhl und das Kind näher an die Schreibmaschine heran. Das Kind patschte mit beiden Händen in die Tastatur und sprudelte ein paar halbverspuckte Worte hervor. Das Ehepaar war von diesem Bild entzückt. Sie hoben sich das Kind gegenseitig in die Arme. Aber das Kind quengelte und wollte wieder vor der Schreibmaschine sitzen. In diesen Augenblicken öffnete Fräulein Weber die Tür und sagte: Herr Weigand, Sie haben Besuch.
    Eine halbe Minute später war ich in meinem Zimmer und sah, daß der Mann mit Bart und Aktentasche auf mich wartete. Er war genauso bleich und wächsern wie vorige Woche. Augenblicksweise ging mir auf, warum mir die Nachkriegszeit damals gefiel: Die Gesichter der Menschen waren voller eingestandenem Entsetzen. Es gab weit und breit niemanden, der von ihnen verlangte, daß sie fröhlich, erfolgreich, lustig, optimistisch oder sonstwie sein sollten. Aus seiner linken Anzugtasche schaute ein Löffel heraus. Vermutlich ernährte sich der Mann in öffentlichen Armenküchen, wollte aber auf seinen eigenen Löffel nicht verzichten. Er beklagte sich, das seine Eingabe noch nicht erschienen war. Weil ich keine bessere Idee hatte, redete ich von unvorhersehbaren Verhinderungen, woraufhin der Mann in gute Laune verfiel.
    Sehen Sie, sagte er, jetzt sind Sie auch ein Opfer der Verhinderungen! Jetzt sehen Sie, wie das ist!
    Ich nickte verlegen.
    Ich kämpfe seit ungefähr zwanzig Jahren gegen die Verhinderungen, ohne jeden Erfolg, sagte er.
    Tja, machte ich.
    Ich habe in früheren Jahren sogar Eingaben gegen die Verhinderungen geschrieben, ich kann sie Ihnen vorbeibringen!
    Auf keinen Fall, sagte ich, bitte nicht.
    Klar, sagte der Mann, natürlich, die Verhinderungen lassen sich davon nicht, ähh, abhalten.
    Es ist so, fing ich an, da öffnete sich die Tür, Herrdegen trat ein mit seinem Kind auf dem Arm. Augenblicklich drehte er sich um, rief seine Frau herbei, übergab ihr das Kind, ging dann auf den Mann zu und herrschte ihn an: Was habe ich Ihnen bei Ihrem vorigen Besuch gesagt?! Was?! Haben Sie das vergessen?! Wie sind Sie überhaupt hereingekommen?
    Der Mann erhob sich erschrocken.
    Soll ich Ihnen Beine machen? sagte Herrdegen aus nächster Nähe.
    Der Mann drückte seine Aktentasche an sich und berührte (ein wunderbarer Augenblick) mit den Fingerspitzen kurz den Löffel in seiner Anzugtasche, ehe er mit kleinen Schritten zur Tür ging.
    Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, werde ich die Polizei anrufen, sagte Herrdegen; haben Sie mich diesmal verstanden?
    Herrdegen trat einen Schritt zurück und sah dem Fremden dabei zu, wie er die Tür öffnete. Herrdegen folgte ihm auf den Flur und sah ihm dabei zu, wie er die Treppe hinunterging und verschwand. Dann wandte sich Herrdegen zurück in mein Zimmer und sagte: Das ist ein Psychopath. Mit solchen Leuten dürfen Sie sich nicht einlassen. Sie kommen immer wieder und stehlen Ihnen nur die Zeit. Hat er Sie unter Druck gesetzt?
    Ich schüttelte den Kopf.
    Wenn er nochmal kommt, schmeißen Sie ihn sofort raus, sagte Herrdegen, können Sie das?
    Ich nickte.
    Oder Sie rufen mich, sagte Herrdegen, dann verschwindet er von alleine. Es ist fürchterlich! Die halbe Stadt ist voll von diesen Leuten.
    Ich schaute gegen die Wand.
    Aber jetzt ist erst mal eine Weile Ruhe, sagte Herrdegen. Sie gehen um zwölf zur Eröffnung der Italienischen Woche?
    Ja, sagte ich.
    Gut, machte Herrdegen und verließ das Zimmer.
    Ich legte mir einen Stenoblock und einen Kugelschreiber zurecht. In Kürze würde ich zum Kaufhaus Hertie aufbrechen und am Nachmittag über die Italienische Woche einen Zweispalter schreiben. Der Sportredakteur Fellhauer erschien in meinem Zimmer und suchte einen Artikel über die Jugend-Schwimmeisterschaften, über die in der vorigen Woche im Lokalteil berichtet worden war. Fellhauer gab sinnlose, lautmalerische Worte von sich, die ich gerne hörte. Oft ging er durch den Flur und sagte halblaut Tschingi Tschongi oder flopso bobso vor sich hin. Oder er setzte sich an den Schreibtisch und sagte: Tschu tschu tschulaka buki. Dabei führte Fellhauer ein verdrossenes Leben. Er war in einer anderen Stadt, eine halbe Tagesreise von hier, unglücklich verheiratet. Jeden Freitagabend fuhr er zu Frau und Kind und kehrte am Montag morgen in die Redaktion zurück. Er brauchte bis Mittwoch, um sich von den Streitereien mit seiner Ehefrau zu erholen. Sein

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