Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
Telefonklingeln verweisen sollte. Der Dekorateur legte sich den Hörer ans Ohr, allerdings verkehrt herum. Auch dieser Scherz kam nicht an, beziehungsweise er war zu schwach. Der Humorist tat so, als würde er eben erst merken, daß er ein Fahrradklingeln für ein Telefonklingeln gehalten hatte. Diese Enthüllung sprach er selber aus und versuchte dabei zu stottern, aber auch das Stottern war nur schlecht nachgeahmt. Jetzt drangen Rufe wie Aufhören! Genug! aus dem Publikum nach vorne, aber der Mann ließ sich nicht irritieren. Seine Hauptnummer, das Auseinanderklappen des Liegestuhls, konnte er nicht mehr zeigen. Der Conférencier lief herbei und hielt den Dekorateur an den Armen fest. Der Humorist verstand nicht oder wollte nicht hinnehmen, daß ihn der Conférencier hinderte, und leistete Widerstand. Herr Frédéric ergriff das Mikrofon und erzählte zotige Geschichten, die er mit Geräuschen untermalte. Im Handumdrehen hatte er das Publikum auf seine Seite gebracht. Im Hintergrund wurstelte der Dekorateur mit seinem Liegestuhl herum und wurde nicht mehr beachtet. Nein, das stimmte nicht. Das Publikum beklatschte sein Scheitern. Die Grausamkeit der Szene war jetzt auf ihrem Höhepunkt. Ich hatte eine derart starke Peinlichkeit (und das rätselhafte Einverständnis mit ihr) nie zuvor gesehen. Ich blickte immerzu umher, weil ich zuwenig verstand. Es war ein Schmerz im Saal, der alle traf und gleichzeitig von allen geleugnet wurde. Am schrecklichsten war, daß der Dekorateur weiterspielte. Noch immer zeigte er Reste seiner Träume von einem anderen Leben als Humorist und Sänger. Erst die Ankündigung des nächsten Künstlers ließ ihn stutzen. Ein frischer Sänger stand schon am rechten Rand der Bühne. Im Weggehen faßte der Conférencier den Humoristen an der Schulter und zog ihn von der Bühne herunter. Er ließ sich jetzt widerstandslos abschleppen. Neben mir hörte ich Lindas heftiges Atmen. Sie rauchte und steckte die abgebrannten Streichhölzer in die Zündholzschachtel zurück. Dann und wann nahm sie eines der abgebrannten Hölzer aus der Schachtel heraus und spielte mit ihm. Ihre Fingerspitzen wurden dabei ein wenig schwärzlich, was ihr zu gefallen schien. Ich betrachtete die Fältelung in Lindas Bluse und dachte: Du kannst nicht schon wieder die Fältelung in Lindas Bluse betrachten.
Bleiben Sie bis zum Schluß? fragte mich Linda leise.
Ich bin noch nie vorher abgehauen, sagte ich.
Warum?
Ich trau mich nicht, sagte ich.
Nach einer halben Stunde weiß man, was noch kommt, sagte Linda.
Mich fesselt die Abgründigkeit der Darbietungen, sagte ich.
Das wird Ihnen noch vergehen.
Wieso?
Die Dummheit wird noch viel ordinärer, sagte Linda, das ist alles.
Darauf fiel mir keine Antwort ein. Der Sänger, der gerade auf der Bühne war, hieß Max Büssing und war von Beruf Stukkateur. Er war siebenundvierzig Jahre alt und sang in Hans-Albers-Manier den Schlager Auf der Reeperbahn nachts um halb drei . Seine Nummer war nicht besonders gut und nicht besonders schlecht. Linda und ich lehnten uns zurück und hörten wieder zu. Von unseren Kollegen waren schon zwei verschwunden. Das Publikum verlief sich teilweise in das Restaurant oder in die Bar. Der Hans-Albers-Darsteller schien davon nicht beeindruckt. Er sang mit ächzend nachgeahmter Wehmut auf die Leute herunter. Von der Jury erhielt er die Gesamtnote 2,5.
Werden Sie vorher gehen? fragte ich Linda.
Ja.
Wann?
Die Abende hier laufen gewöhnlich so ab, sagte Linda, daß in höchstens einer Viertelstunde ein teures Abendessen serviert wird. Wenn man mitißt, erwartet die Geschäftsleitung, daß man den ganzen Wettbewerb absitzt.
Ahh so, machte ich.
Linda ging auf die Toilette und kehrte mit leicht geschminkten Lippen zurück. Ich überlegte, ob die Schminke eine versteckte Aufforderung an mich sein sollte, mit ihr das Lokal zu verlassen. Ich wußte nicht, was ich mir einbilden durfte. Der Conférencier kündigte den Auftritt eines Herrn Dieter Oelke an. Er trug einen Frack, einen Zylinder und weiße Handschuhe, außerdem Lackschuhe und einen schwarzen Stock mit Knauf. Herr Oelke erinnerte ein wenig an Maurice Chevalier und ein wenig an Johannes Heesters. Er war zweiundvierzig Jahre alt und von Beruf Schreiner. Er prüfte das Mikrofon und machte ein paar Stepschritte. Ein paar Sekunden lang dachte ich daran, Linda vorzuschwindeln, ich hätte einen Roman angefangen. Wahrscheinlich, so hoffte ich, wäre sie dann neugierig und würde noch eine Weile bleiben.
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