Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
Steine glänzten in der Sonne. In der Mitte zogen sich schnurgerade Straßenbahnschienen hin. Der Straßenbahnverkehr war hier seit Jahren eingestellt, aber die Schienen waren nicht entfernt worden. Sie zeigten jetzt nichts als eine leere Ferne, die immer neu in der Mitte der Straße entsprang und nirgendwo hinführte. Eine Weile redete ich mir ein, daß Menschen von hinten trauriger und trauererregender aussahen als Menschen von vorne. Und weil ich viele Personen gleichzeitig von hinten betrachtete, glaubte ich momentweise, mich inmitten einer großen Trauergesellschaft zu befinden. Erst die zwanghafte Art, mit der ich an meiner Idee festhielt, verriet mir immer neu, daß ich alleine trauerte und niemand von meiner Trauer wußte. Am Ende der Schienenstraße lag ebenfalls ein Café mit ein paar Stühlen auf einem terrassenartigen Vorplatz. Es war nicht schön hier, nicht einmal still. Neben dem Café wurde ein größeres Haus gebaut. Der Lärm der Betonmischmaschine beherrschte fast die ganze Terrasse. Trotzdem setzte ich mich nieder und bestellte ein Glas Rotwein und ein Mineralwasser. Der Kellner zuckte entschuldigend die Achseln, vermutlich wegen des Baulärms. Wind kam auf und trug leichte Sandverwehungen in die Umgebung. Zufällig faßte ich mir ins Haar und ertastete dort ein paar Sandkörner. Mit den Fingerkuppen rieb ich die Staubkörner eine Weile auf meiner Kopfhaut hin und her. Durch den Sand im Haar hatte ich plötzlich Anteil am Tod. Es ergriff mich eine Art freudiger Bestürzung. Der Sand im Haar drückte meine Trauer erheblich persönlicher aus als der im Spülwasser versinkende Schlager. Ich schaute den leeren Drehungen der Betonmischmaschine zu und wartete auf die nächste Sandverwehung. Ich lebte und staubte ein, ich lebte und war gleichzeitig ein bißchen tot. Näher war ich Linda nie zuvor gewesen. Nach einer Weile legte ich mir einen Arm über die Augen und verbarg die Tränen. Nach einer halben Stunde zahlte ich und ging zurück in die Redaktion. Herrdegen trat in mein Zimmer und fragte: Werden Sie zur Beerdigung der verstorbenen Kollegin fahren?
    Ich würde gern, sagte ich.
    Sie können zwei Tage Sonderurlaub haben, sagte Herrdegen.
    Danke, sagte ich.
    Ich war dankbar für Herrdegens Diskretion. Er nannte Linda eine verstorbene Kollegin und umging damit jede Diskussion der Todesart und der Gründe, die es für diese vielleicht gab. Am Frühabend ging ich zum Bahnhof und erkundigte mich nach einer Verbindung. Ich würde mit dem Zug bis Wilhelmshaven fahren und von dort weiter mit dem Bus bis zur Küste. Die Fahrt dauerte einen halben Tag, am Abend davor ging ich früh ins Bett. Die Reise an die Nordsee war meine erste größere Reise überhaupt. Am Tag der Abfahrt ließ ich mich um fünf Uhr wecken. Eine Weile hatte ich mir überlegt, ob ich mich anläßlich der Beerdigung nicht doch neu einkleiden sollte, war dann aber wieder davon abgekommen. In meiner Je-ka-mi-Garderobe hatte mich Linda zuletzt gesehen. So schlüpfte ich erneut in meinen (so nannte ich ihn jetzt) Staub-und-Asche-Anzug. Während des Frühstücks überlegte ich, daß es für ihren Tod drei Gründe geben könnte. Die Unmöglichkeit, ihre Heimat zu verlassen, die Unmöglichkeit, mit ihrem Freund, dem Seemann, zurechtzukommen, und die Unmöglichkeit, ihren Roman zu schreiben. Später, im Zug, zwischen Koblenz und Köln, erwog ich, ob ich Lindas Roman schreiben sollte, zu ihrem Andenken. Sie hatte mir oft von diesem Roman vorgeschwärmt. Manchmal hatte ich beim Erzählen schon das Gefühl, ich sei mit ihr auf dem Frachter nach New York gefahren und ich hätte mit ihr Reißaus genommen vor dem zudringlichen Matrosen. In Dortmund betrat eine Mutter mit Kind das Abteil. Das Kind forderte die Mutter auf, ein Bild zu malen, und zwar einen »Fisch mit Augen zu«. Die Mutter gehorchte und malte auf der Rückseite eines Kassenzettels einen Fisch mit Augenklappe. Aber das Kind nahm das Bild nicht an und verlangte erneut einen »Fisch mit Augen zu«. Ich nahm an, es war der Wunsch des Kindes, die Mutter sollte mit geschlossenen Augen einen Fisch malen, aber ich traute mich nicht, die Mutter auf diese Idee zu bringen. Als das Kind merkte, daß die Mutter auch beim zweiten Anlauf seinen Wunsch nicht verstand, stellte es sich eine Weile an das halboffene Fenster und sang in den Fahrtwind hinaus. Diese Art des Trostes (hinaus ins windige Nichts) beeindruckte mich so stark, daß ich fast eine ganze Stunde lang nicht an Linda denken mußte. In

Weitere Kostenlose Bücher