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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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lange Ferngespräche auf Redaktionskosten, was ihm ausdrücklich verboten war. Aber offenbar wußte er, daß Herrdegen an diesem Morgen einen Außentermin hatte, und mich nahm er als Kontrollinstanz nicht ernst. Vielleicht wollte mich Angelmaier kränken, aber ich hatte kein Bedürfnis, Kränkungen zu bemerken oder gar auf sie zu reagieren. Stattdessen erinnerte ich mich an Mutter. Wenn ich mich als Kind langweilte, holte sie den großen Koffer vom Schrank herunter. Er war bis zum Rand gefüllt mit Lappen, Stofffetzen, Knöpfen, Gürteln, Schulterpolstern. Ich wühlte eine Weile in diesen Dingen herum, war phasenweise fasziniert, aber plötzlich wußte ich nicht, ob mich das Spiel mit den Lumpen von der Langeweile befreit oder mich erst richtig in diese hineingestürzt hatte. So ähnlich fühlte ich mich in diesen Tagen. Ich überlegte, ob ich später in den »Grünen Baum« gehen und über Lindas Roman reden sollte. Ich hätte damit immerhin zum Ausdruck bringen können, daß ich um Linda trauerte und ihrer gedachte. Zum Beispiel hätte ich mit Kindsvogel über Lindas letztes und vielleicht unüberwindliches Romanproblem sprechen können: ob sie die Zudringlichkeiten des Matrosen schon während der Schiffsfahrt oder erst zu Beginn des Aufenthaltes in New York erzählen sollte. Linda hatte zuletzt gemeint, es würde zuviel Spannung verlorengehen, wenn der Matrose die Frau schon auf dem Schiff belästigte. Was soll denn dann noch in New York passieren? Leider konnte ich ihr keinen brauchbaren Rat geben. Ich hatte nur, wie alle anderen Kollegen auch, um das Problem herumreden können. Ich wollte nicht einmal länger mit den Kneipenschriftstellern zusammentreffen, die Abend für Abend über Bücher redeten, die sie nicht geschrieben hatten und wahrscheinlich nie schreiben würden. Gegen Mittag kam Herrdegen zurück. Ich hörte, wie er in seinem Zimmer seine Sachen ablegte, das Fenster öffnete und ein Glas Wasser trank. Dann kam er zu mir herüber.
    Störe ich Sie?
    Überhaupt nicht, sagte ich.
    Ich würde Sie gerne etwas fragen. Zum Jahreswechsel verläßt Herr Wettengel unser Haus. Wenn Sie wollen, können Sie seine Stelle übernehmen. Normalerweise muß man, um Redakteur zu werden, ein zweijähriges Volontariat machen. Ein Jahr könnte Ihnen geschenkt werden wegen der Urlaubsvertretung, die Sie jetzt bald hinter sich haben. Sie müßten also noch ein Jahr Volontär sein, vor allem müßten Sie noch eine Weile in der Politik, in der Wirtschaft und im Sport arbeiten, aber dann wären Sie Redakteur bei uns.
    Vermutlich nahm Herrdegen an, daß ich gleich zusagen würde. Stattdessen erlitt ich einen Schweißausbruch. Ich hatte kein Taschentuch bei mir. Deswegen wischte ich mir mit dem rechten Ärmel meines Staubanzugs den Schweiß von der Stirn. Erst als ich über die Zeit schwieg, sagte Herrdegen: Sie müssen sich nicht sofort entscheiden; es reicht, wenn Sie mir in vierzehn Tagen Bescheid sagen.
    Denken Sie nicht, sagte ich (und suchte nach einer Förmlichkeit), daß ich Ihr Angebot nicht zu schätzen weiß. Ich bin nur so sehr verblüfft, daß ich im Moment nichts sagen kann.
    Herrdegen lachte.
    Dann laß ich Sie jetzt am besten in Ruhe, sagte er und verließ den Raum.
    Ich tippte noch zwei Bildunterschriften, dann war für mich der Arbeitstag zu Ende. Kurz vorher erschien Herrdegen noch einmal und reichte mir einen Zettel mit der Adresse eines Rentners, der in Griesheim lebte. Ihn sollte ich morgen früh um 11.00 Uhr interviewen. Der Rentner hieß Erich Wagenblaß und hatte sich als Bastler hervorgetan. Er baute aus Streichhölzern berühmte Denkmäler und Gebäude nach. Jetzt hatte er den Eiffelturm nachgebaut und kam deswegen in die Zeitung.
    In der halben Stunde, die mir bis Geschäftsschluß noch blieb, unternahm ich in zwei Tagen den vierten oder fünften Anlauf, mir einen neuen Anzug zu kaufen. Aber ich fühlte, daß ich erneut scheitern würde. Ich durchstreifte die Herrenabteilung zweier Kaufhäuser und spürte immer deutlicher meine inneren Widerspenstigkeiten. Ich wurde Opfer eines Ticks, dessen Kontrolle mir mehr und mehr entglitt. Der Tick bestand darin, daß mein Staubanzug und ich immer stärker zusammenwuchsen. Mein Staubanzug war der Anzug, in dem mich Linda zuletzt gesehen hatte. Ich konnte diesen Anzug nicht einfach wegwerfen und einen neuen anziehen. Nein, in Wahrheit war mein Tick schon weiter fortgeschritten. Ich blieb jetzt immer mal wieder stehen und hob mir den Saum des Sakkos vor die Nase,

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