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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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lachten, was Vater entweder nicht sah oder ignorierte. Mutter habe ich bis heute im Verdacht, daß sie meine Beschämung bemerkt hatte. Ich stolzierte als kleiner Kunstbayer und Fremdkind nach Hause. Weil ich die Freude der Eltern nicht beeinträchtigen wollte, tat ich so, als hätte ich die mir da und dort entgegenblickenden Verhöhnungen nicht bemerkt. Jetzt, in der Erinnerung, kam es mir so vor, als sei die Kindheit überhaupt der Ursprung aller Lächerlichkeit. Die Eltern verfehlten das Kindswohl und gaben das Kind damit der komischen Unzulänglichkeit preis. Zwischen den engen Wänden der Umkleidekabine fragte ich mich, ob das Moment der Pein durch fehlgehende Kleidung noch immer in mir nachhallte oder neu auflebte. Obgleich mir der Diolen-Anzug, in dem ich gerade steckte, sogar paßte, zog ich ihn wieder aus und schlüpfte zurück in meinen übelriechenden Je-ka-mi-Anzug. Ich war jetzt sicher, daß ein Kindheitszustand, den ich für ausgestanden und abgelebt gehalten hatte, unverändert in mir fortlebte. Erst in den Augenblicken, als ich dem Verkäufer den Diolen-Anzug zurückgab, riß wenigstens die Spur meiner Erinnerung. Eine halbe Stunde später setzte ich mich ein wenig benommen an den Schreibtisch in der Redaktion. Ich wollte mir alles aufschreiben, was ich über Kleidung, Kindheit und Straßenanzüge gedacht hatte. Ich wartete eine Weile, aber meine Gedanken und Einfälle kehrten nicht wieder zurück. Der Sportredakteur lief draußen vorbei und summte vor sich hin: Tschambaleia die Katz legt Eier tschambaleia. Fräulein Weber lachte. Ich lachte nicht, denn mir mißlang auch mein Je-ka-mi-Artikel. Herrdegen wünschte über den ganzen Abend genau zwanzig Zeilen plus Foto und Bildunterschrift. Dummerweise geriet ich ins Nachdenken. Ich verstand nicht, wie ein großes, stadtbekanntes Vergnügungslokal die Menschen dazu verführte, ihre heimlichsten Gefühle öffentlich zu zeigen; wie die Menschen sich dazu hinreißen ließen, auch noch unter Vorspiegelung einer Belohnung, sich hoffnungslos zu offenbaren; und wie diese Gefühle nach vier Stunden ausgelöscht und verbrannt wurden wie ein Haufen alter Autoreifen. Ich selbst wirkte, indem ich nur zwanzig Zeilen schreiben durfte, an dieser Vernichtung mit. Ich machte einen Versuch, mit Herrdegen über den Fall zu sprechen. Herrdegen sagte, ich sollte nicht so sehr herausfinden wollen, was wahr und unwahr ist. Es ist nicht die Aufgabe einer Zeitung, sagte Herrdegen, die Wahrheit mitzuteilen. Was wahr ist, muß jeder einzelne Mensch für sich persönlich herausfinden. Die Zeitung stellt für diese Suche nur das Material bereit, mehr nicht. Im übrigen, sagte Herrdegen, begeistert sich das Publikum für eine Lüge genauso wie für deren Aufdeckung. Die Zeitung ist ein Schaufenster, kein Gericht, das müssen Sie akzeptieren. Ich fand Herrdegens Meinung sowohl klug als auch fürchterlich. Mir fiel sogar ein Argument gegen ihn ein. Ich wollte sagen, daß die einzelnen Menschen überfordert sind, für sich allein eine Wahrheit zu finden, und daß ihnen die Zeitung dabei helfen könne. Aber ich war viel zu aufgeregt darüber, daß ich mit Herrdegen nicht einer Meinung war, und konnte mein Argument nicht in zwei gutgebaute Sätze verwandeln. Stumm ging ich in mein Zimmer zurück und fing noch einmal an, zwanzig Zeilen über ein Massengrab von Gefühlen zu schreiben. Es war mir nicht erlaubt beziehungsweise es war nicht meine Aufgabe beziehungsweise es war unmöglich, über die wirkliche und wahre und von mir persönlich beobachtete Enttäuschung des Herrn Rauchfuß einen authentischen, weil zutreffenden Bericht zu schreiben. Offenbar mußte ich hinnehmen, daß alle, die hier arbeiteten, mal mehr, mal weniger an eingestandener Infamie litten und daß Herrdegen ein Argument gefunden hatte, das ihm ein Wohlbehagen inmitten dieser Infamie erlaubte. Über dreißig unbekannte, aber hoffnungsvolle Nachwuchskünstler trafen sich im Bürgerbräu zum neuesten Je-ka-mi-Wettbewerb, tippte ich in die Schreibmaschine. Danach wußte ich nicht weiter. Ich sah zum Fenster hinaus. Erneut machte mir das Kartell der Einfalt zu schaffen. Im Fall des Je-ka-mi-Abends waren es sogar leibhaftige Menschen, die ihre Schlichtheit selbst zu Markte trugen beziehungsweise auf einer Bühne zur Schau stellten. Wieder konnte ich niemanden ausfindig machen (außer den Freizeitkünstlern selber), der an diesen Selbstentblößungen schuld war. Ich mußte hinnehmen, daß Dummheit für Dumme unterhaltsam war.

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