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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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sie diesen ungeliebten Tanzturnieren nicht fernblieb, stellte ich nicht mehr. Offenbar war heute der Tag des großen allgemeinen Nichtverstehens. Ich betrachtete eine Packerin, die versuchte, eine Fliege zu fangen. Aber die Packerin war langsam und ungeschickt. Immer wieder entkam die Fliege und kreiste erneut in niedriger Höhe über zwei zurückgelassene Kartoffeln im Teller der Packerin. Dann verstand ich, es waren nicht die Fliegen, die die Packerin provozierten, sondern deren unverschämt niedrige Flughöhe. Es war mir nicht recht, daß ich schwieg. Fräulein Weber drückte ihre Zigarette aus und aß weiter. Vielleicht hatte sie bemerkt, daß irgendetwas zwischen uns verrutscht war und nicht mehr stimmte. Ich dachte mir den Text einer kleinen Vereinbarung aus, die Fräulein Weber vielleicht mit sich selbst getroffen haben könnte. Ich, Fräulein Weber, werde es künftig unterlassen, meine Unzufriedenheit auf den mangelnden Einsatz meiner Intelligenz zurückzuführen; ich erwerbe dafür das Recht auf sinnlose, aber niedliche Nörgeleien, mit denen ich in der Mittagspause meine Kollegen unterhalte. Dummerweise machte ich einen Fehler und kicherte leise über meinen eigenen Einfall.
    Sagen Sie mir, worüber Sie sich amüsieren? fragte Fräulein Weber.
    Über ein Wort, antwortete ich.
    Oh! machte sie; nur über ein Wort?
    Ich dachte gerade, sagte ich, daß es jetzt Zeit wird, daß wir unsere Anstaltsteller zurückgeben.
    Anstaltsteller! wiederholte Fräulein Weber und lachte hell auf. Anstaltsteller, das werde ich mir merken!
    Fräulein Weber schaute mich zufrieden an. Die Stimmung zwischen uns schien gerettet, jedenfalls für diese Stunde. Fräulein Weber tänzelte neben mir her zurück in die Redaktion. Die meisten Türen standen offen, ein schwaches Lüftchen zog durch die Räume. Aus mehreren Zimmern drang das Geklapper von Schreibmaschinen. Es war ein Geräusch des Wohlwollens, dem ich mich gerne hingab. Das Wort Anstaltsteller brachte zwischen Fräulein Weber und mir eine Gemeinschaftsstimmung hervor, die uns jetzt wie ein Pärchen durch die Flure gleiten ließ. Den Anschein der überraschenden Übereinstimmung verstand ich nicht, aber dann fiel mir ein, daß der Tag des großen allgemeinen Nichtverstehens noch nicht zu Ende war. Den Je-ka-mi-Artikel ratterte ich jetzt mit hochtouriger Geläufigkeit herunter. Herrdegen verzichtete erneut auf Gegenlektüre und gab mir ein Zeichen, daß ich meinen Text gleich in die Setzerei geben sollte. Die Nachricht erreichte mich beiläufig. Der Lokalreporter Kindsvogel nannte mir am Telefon ein paar technische Details über ein geplantes neues Schwimmbad, über das ich am späteren Nachmittag ebenfalls schreiben wollte. Dann, das Telefongespräch war schon fast zu Ende, sagte Kindsvogel: Lindas Schreibtisch wird gerade geräumt. Obwohl dieser Satz die Nachricht schon enthielt, stellte ich mich stutzig und schwieg. Wissen Sie es noch nicht? fragte Kindsvogel. Als ich stumm blieb, sagte er: Linda hat sich das Leben genommen. Es tut mir leid, es tut uns leid. Übermorgen ist die Beerdigung. Oh Gott, machte ich. Ja, sagte Kindsvogel, sie hat sich im Haus ihrer Eltern erhängt.

6
    Einen solchen Satz hatte noch nie jemand an mich hingesprochen. Ein paar Augenblicke lang versuchte ich mir das vorzustellen: wie Lindas Körper irgendwo hing. Die Vorstellung brachte kein Bild, sondern nur einen Schrecken hervor. Ich dankte Kindsvogel und legte auf. Die Nachricht verlangsamte mein Denken. Bei Fräulein Weber entschuldigte ich mich für eine halbe Stunde und verließ die Redaktion. Unten, auf der Straße, störte mich, daß an einem Briefkasten die Briefklappe nach oben stand. Ich kam an dem italienischen Café am Marktplatz vorbei, das es erst seit ein paar Wochen gab. Fenster und Türen des Cafés waren weit geöffnet. Hinter der Theke stand ein junger Mann, der Gläser und Eisbecher spülte und dabei den Schlager mitsang, der aus der Musikbox ertönte. Das heißt, er sang mit gesenktem Kopf auf die Spüle herab. Das im Spülwasser versinkende Lied ist der richtige Ausdruck für deine Trauer, dachte ich. Ich wollte mir in der Nähe des singenden Spülers einen Platz suchen, aber dann störte mich der Lärm ringsum. Ich drehte ab und ging an dem Briefkasten vorbei. Im Augenblick, als ich die nach oben stehende Klappe nach unten drückte, dachte ich: Aus zu Schluß vorbei für immer. Die Straße, die ich entlangging, war breit und mit Kopfsteinen gepflastert. Die schwarzen Kuppen der

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