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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Ich stand jetzt dicht hinter der Fensterscheibe und kämpfte gegen meine Niedergeschlagenheit. Offenbar war das Leben so angelegt, daß Einsichten dieses Kalibers mit privater Melancholie bezahlt werden mußten. Auf der Straße ging eine alte Frau mit einem sehr faltigen Hals und einer Perlenkette vorüber. Sie aß getrocknete Rosinen, die sie einzeln aus einem Papiertütchen herausholte. Immer wieder verschwand ein kleines Teilstück ihrer Perlenkette für Augenblicke in einer der tiefen Halsfurchen, sobald die Frau den Kopf drehte. Gierig stürzte sich meine Trauer auf das Auf- und Abblitzen der Perlen und löste sich dabei langsam auf. Kurz vor zwölf öffnete Fräulein Weber die Tür und fragte, ob ich mit ihr zum Mittagessen gehe. Dankbar sagte ich: Aber ja doch, wann soll’s losgehen? Von mir aus sofort, sagte Fräulein Weber. Ich komme, sagte ich und schob die Maschine mit dem angefangenen Artikel in die Mitte des Schreibtischs.
    Fräulein Weber trug an diesem Tag eine helle und frische Bluse mit aufgenähten Goldsternen und tiefem Ausschnitt. Außerdem einen neuen engen Leinenrock und hellbeige, offenbar ebenfalls neue Slipper. In der Kantine entschied sie sich für Menü I (Rosenkohl, Hackbraten, Bratkartoffeln und Salat), ich wählte Menü II (Forelle blau mit Salzkartoffeln und Dessert). Noch während wir uns einen Platz suchten, beschwerte sich Fräulein Weber darüber, daß die schäbigen Kunststofftabletts, auf denen wir die Menüs vor uns hertrugen, nicht zur tadellosen Neuheit ihrer Kleidung paßten. Ich wollte schon erwidern, daß sie zu meinem Staubanzug sehr wohl paßten, aber ich hielt die Bemerkung zurück. In der Nähe des Aquariums fanden wir zwei Plätze. Hinter uns saßen ein paar ältere Packerinnen und Packer, die trotz ihres Alters ganz undeutlich über ihre Probleme redeten. Fräulein Weber nahm Anstoß an ein paar Kollegen, die über ihr Mittagessen gebeugt waren, ohne die Teller von den Tabletts heruntergenommen zu haben.
    Ich könnte niemals mit einem Tablett unterm Teller essen, sagte sie; ich hätte dann das Gefühl, mich in einem Internat oder einem Landschulheim aufzuhalten.
    Ich nickte zerstreut und sah den kleinen Neonfischen im Aquarium dabei zu, wie sie einander verfolgten und immer neue Schwärme bildeten, die sich dann rasch wieder auflösten. Ich überlegte, ob ich sagen sollte, daß das Internatsgefühl wahrscheinlich nicht von den Tabletts herrührte, sondern von der Raumaufteilung innerhalb der Teller. Jeder Teller war in drei Nahrungszonen parzelliert, die mit tellerrandhohen Wänden voneinander abgetrennt waren. Es gab in jedem Teller ein einzelnes großes Fach links, in dem in der Regel ein Stück Fleisch in einer Sauce lag. Daneben gab es zwei kleinere Fächer für die Beilagen. Durch die niedrigen Porzellanwände kam die Hauptspeise nicht mit den Beilagen in Berührung. Fräulein Weber redete jetzt über Tanzturniere, die sie besucht hatte, und hielt mir dabei ihre bloßen Arme entgegen. Sie öffnete und schloß immerzu die Finger einer Hand, sie faßte sich unter die Achseln und kratzte sich, wobei ihr Handrücken ihren Busenansatz nach oben drückte und über den Rand des Ausschnitts schob. Einmal hob sie mit den Händen das Haar und ließ mich ihre Ohren anschauen. Ich fragte mich, ob dieses körperliche Detail ein erotischer Hinweis an mich sein sollte oder nicht. Eigentlich gefiel mir Fräulein Weber. Schon öfter hatte ich mir überlegt, ob ich mich nicht mit ihr verabreden sollte. Aber ich fürchtete mich davor, daß ich dann über mein Leben reden und zugeben mußte, daß ich in Kürze wieder ein Lehrling sein würde, und darüber wollte ich nicht reden. In dieser Ratlosigkeit waren bis jetzt alle weiteren Absichten verschwunden. Fräulein Weber kündigte an, daß sie am Wochenende wieder ein Tanzturnier besuchen wollte, obwohl sie eigentlich keine Lust dazu hätte.
    Sie tanzen auf Turnieren? fragte ich.
    Nein! Wo denken Sie hin! Ich bin nur Zuschauerin, sagte sie.
    Aber Sie sagten doch, Sie hätten gar keine Lust, auf dieses Tanzturnier zu gehen?
    Nein, sagte Fräulein Weber, ich finde tanzende Männer sogar blöd. Besonders die Tangotänzer! Sie hopsen wie eckige Affen herum und finden sich weiß Gott wie toll.
    Wir lachten. Fräulein Weber unterbrach das Essen und zündete sich eine Zigarette an. Vermutlich gelang es mir, durch mein Lachen zu verbergen, daß ich Fräulein Weber seit einigen Augenblicken nicht mehr recht verstand. Die nächste Frage, warum

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