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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Osnabrück stieg die Frau mit Kind wieder aus. Als der Zug stand, ließ sich eine Elster auf dem Nebengleis nieder. Der Vogel lief auf dem schimmernden Schienenstrang entlang und pickte zuweilen mit dem Schnabel auf den Stahl. Ich fragte mich, ob Linda als Selbstmörderin innerhalb oder außerhalb des Friedhofs beerdigt würde. Ich erinnerte mich an einen Selbstmord, der sich in unserer Nachbarschaft zutrug, als ich ein Kind war. Der Selbstmörder war ein kriegsversehrter Mann, der von Beruf Kunsttischler war und sich in der Nachkriegszeit nicht mehr zurechtfand. Im Krieg war ihm sein linker Fuß abgeschossen worden. Außerdem konnte er das Kniegelenk nicht mehr bewegen. So humpelte er mit einem starren Bein und einem Klumpfuß umher und ertrug (ertrug eben nicht) die Hänseleien der Nachbarskinder (unter ihnen: ich), die er aufgrund seiner Behinderung nicht verfolgen und bestrafen konnte. Eine Stelle als Kunsttischler fand er nicht mehr. Er wurde ein Arbeitsloser, der von Woche zu Woche bitterer darüber klagte, daß es ihm bei den Nazis viel besser ergangen war, obgleich die Nazis schuld daran waren, daß er in den Krieg hatte ziehen müssen und dabei einen Fuß verloren hatte. Immer öfter wegen dieser Dummheit (und immer seltener wegen des Klumpfußes) machten sich die Nachbarn über ihn lustig. Er fühlte den Spott, konnte aber auch ihn nicht abstellen, sowenig wie die Hänseleien der Kinder. Seine Frau baute in diesen Jahren in einem Geräteschuppen eine Dampfwäscherei auf. Erst in einem, dann in zwei großen Kesseln wusch sie jeden Tag große Mengen weißer und bunter Wäsche. Ihr Mann ging ihr zur Hand, so gut er konnte. Weil er aber nicht aufhören konnte, die Nazizeit zu loben, wurde er von seiner Frau zurechtgewiesen und vom Umgang mit ihren Kunden mehr und mehr ferngehalten. Eines Morgens, als die Ehefrau wie üblich die Kesselfeuer anzünden wollte, fand sie ihren Mann hängend in der Waschküche. Sie stürzte schreiend hinaus in den Gemüsegarten des Hinterhofs und lief eine Weile (das sagte meine Mutter) wie ein geköpftes Huhn umher. Mutter erzählte damals auch, daß der Kunsttischler tatsächlich außerhalb des Friedhofs bestattet wurde, in der Nähe des Eingangs, dicht an der Mauer, ohne Pfarrer, ohne Segen, ohne Gebet, ohne Trost: zur Strafe dafür, daß er in Gottes Zuständigkeit eingegriffen hatte.
    Ich war deswegen erleichtert, als ich sah, daß Lindas Grab innerhalb des Friedhofs angelegt war. Es war ein winzig kleiner Friedhof auf dem Gipfel einer kleinen Anhöhe. Nach fast neun Stunden Bahn- und Busfahrt war ich erschöpft und setzte mich eine Weile auf eine Bank in der Nähe des offenen Grabs. Weil ich ein wenig verfrüht eingetroffen war, konnte ich meine Blicke langsam an die Umgebung gewöhnen. Ältere Leute, offenbar aus dem Dorf, kamen vorbei, blieben stehen, sahen herüber und betraten dann den Friedhof oder gingen weiter. Vielleicht wurde auch ihnen die Entscheidung schwer, ob sie an der Beerdigung einer Selbstmörderin teilnehmen sollten oder nicht. Ein Auto hielt, ein Mann stieg aus und hob vorsichtig einen Kranz aus dem Fond des Wagens. Rechts, etwa einen halben Kilometer vom Grab entfernt, sah ich das Meeresufer. Es war kein richtiges Ufer, sondern ein unscheinbarer Meeresrand, eine graue, schlammige Wassergrenze mit ein paar Möwen darüber. Allmählich trafen mehr Trauernde ein. Es waren junge Frauen darunter, die ich für Lindas ehemalige Schulfreundinnen hielt. Auch einige ältere Frauen sah ich. Ich betrachtete sie einzeln und fragte mich, welche von ihnen Lindas Mutter sein könnte. Zur linken Seite hin hatte der Friedhof keine Begrenzung. Er hörte hier mit einem schmalen Sandweg auf, auf dessen Gegenseite Maispflanzen hochwuchsen. Auf den glatten Maisblättern spiegelten sich Lichtreflexe. Die Sonne stand hoch. Am rechten Friedhofsrand, zum Meer hin, hoppelten zwei Karnickel zwischen den Gräbern umher. Die Hortensien ringsum waren schon halb abgewelkt. Ihre riesigen Blütenballen hatten sich violett und braun eingefärbt. Die Trauernden drängten jetzt zur winzigen Trauerhalle hin. Ich erhob mich und stellte mich zu ihnen. Vorne, an der Stirnseite, war der Sarg aufgebahrt. Es erschien ein Priester, aber er redete nicht. Er stellte sich vor dem Sarg auf, faltete die Hände zum Gebet und machte dann das Kreuzzeichen. Der Mann neben mir trug einen offenen Hemdkragen. Die linke Kragenspitze war über das Revers seiner Anzugjacke gerutscht. Vier Friedhofsarbeiter erschienen

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