Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
und stellten sich, zwei links und zwei rechts, an den Seiten des Sargs auf. Der Priester verließ die Kapelle, die Friedhofsarbeiter hoben den Sarg und folgten ihm. Bis zum Grab waren es nur ein paar Schritte. Ich habe nicht sehen können, wo die Friedhofsarbeiter plötzlich die schweren Seile herholten, die sie jetzt unter dem Sarg durchschoben. Zentimeterweise senkten sie den Sarg in das Grab hinab. Dann wurde es still. Kleine Wolken, wie für das unruhige Auge geschaffen, schoben sich rasch am Himmel entlang. Von der Friedhofskapelle tönte eine Melodie herüber, die ich nicht kannte. Es schien eine von Lindas Lieblingsmelodien zu sein. In diesen Augenblicken, als Linda nur noch durch eine kurz vorüberhuschende Musik auf der Welt war, brachen ein paar ältere Frauen in Schluchzen aus. Der Körper einer der Frauen krümmte sich nach vorne. Sie wurde seitlich von zwei anderen Frauen abgestützt. Mir halfen ein paar tief herabhängende Telegrafenleitungen, deren Anblick mich tröstete. Vielleicht war nicht einmal der Tod das Schlimmste. Sondern der Zwang, ein beliebig törichtes Ereignis (den Je-ka-mi-Abend) zur letzten Erinnerung an einen toten Menschen umdeuten zu müssen. Die beiden Karnickel fraßen jetzt frisches Grünzeug von den Gräbern herunter. Gewitterluft lag über der Landschaft, aber das Gewitter blieb aus. Ich sah ein paar Möwen zu, die im Steilflug herabstürzten und am Boden liegende Schneckenhäuser aufschlugen. Der Priester schüttete drei Häuflein Erde in das Grab und gab der Frau, die am stärksten geschluchzt hatte, die Hand, redete aber nicht mit ihr. Einige Trauernde warfen ebenfalls Erde in das Grab, andere nicht. Der Priester blieb noch eine Weile am Grab stehen, dann ging er weg. Allmählich verliefen sich die Trauernden. Ich ging in einigem Abstand hinter ein paar Männern her, deren Weg ins Dorf führte. Ich war in Versuchung, mich nach Lindas Elternhaus durchzufragen, das seit kurzem auch ihr Sterbehaus war. Lindas Dorf war eine merkwürdig ungeordnete Ansammlung von etwa vierzig bis fünfzig niedrigen Häuschen. Straßennamen gab es nicht, nur Hausnummern. Die Landschaft ringsum (Salzwiesen, Äcker, Dünen, Brachland) wirkte leblos, fast unbewohnt und auch unbewohnbar. Um einige Häuser herum standen hohe Brombeerhecken und ältliche Schilfstengel. Am Dorfeingang gab es einen Laden mit einem schmalen Schaufenster. Über dem Ladeneingang war zu lesen: MODE UND TEXTIL S. JENSEN. Am Boden des Schaufensters lagen zwei Strickwesten und ein Rock in den Farben des Dorfes: braunes Violett, schmutziges Türkis, graues Gelb. Die einzige Heiterkeit ging von einem älteren Mann und zwei nackten Kleinkindern aus. Der Mann wässerte mit einem Gartenschlauch einen kleinen Gemüsegarten und richtete den Wasserstrahl manchmal auf die vergnügt schreienden Kinder. Ein schmaler Wasserlauf durchquerte das Dorf und führte zu einem Sielhafen, in dem ein paar Fischerboote festgemacht hatten. Vor einem Haus stand ein kleines Holzwägelchen, dessen Deichsel auf den Boden herunterreichte. Im Haus daneben gab es einen Lebensmittelladen mit einem ebenfalls schmalen Schaufenster. Ausgestellt waren Putzmittel, Scheuerbürsten, Fliegenfänger, Packpapier und drei Rollen starker Kordel. Im Hintergrund lehnte ein Schild: CHEMISCHE REINIGUNG ANNAHME HIER. Und darunter: GEPFLEGTE KLEIDUNG MACHT GLÜCKLICH. An der Tür hing eine Schiefertafel mit der handgemalten Aufschrift »Zimmer frei«. Ich kam für eine Weile ins Überlegen. Ich könnte den Laden betreten und nach Lindas Elternhaus fragen, ich könnte hier übernachten und am nächsten Tag einen Versuch machen, mit Lindas Mutter zu sprechen. Vermutlich, dachte ich, würde sie mit einem Fremden nicht sprechen, aber ich hätte es probiert. Aber dann öffnete sich die Tür, eine Frau verließ den Laden. Sie ließ die Tür offenstehen. Ein Geruch nach harten Eiern, Gurken, alten Aktentaschen und Seife drang nach draußen, ein lebhafter Todesgeruch. Wenige Sekunden später entschloß ich mich doch zur Rückkehr. Die Bushaltestelle war nur wenige Schritte von dem Lebensmittelladen entfernt. Nach rund zehn Stunden, gegen Mitternacht, traf ich zu Hause ein.
7
Nach der Rückkehr von der Beerdigung ließ mich Herrdegen zwei Tage lang in Ruhe. Ich erledigte meine Arbeit und saß dann herum. Seit Linda nicht mehr da war, hatte ich immer wieder das Gefühl, in notdürftig geflickten Verhältnissen zu leben. Einmal erschien Angelmaier morgens in der Redaktion und führte
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