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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Streichholzbastler vierzig Zeilen. Der Eiffelturm von Herrn Wagenblaß war mein letzter Auftrag während der Urlaubsvertretung. Am Wochenende würde ich noch einmal Sonntagsdienst machen, am darauffolgenden Montag würde ich wieder Lehrling sein, jedenfalls zunächst. Statt mich einer Entscheidung zu nähern, ob ich Herrdegens Angebot annehmen sollte oder nicht, hatte ich immer öfter Schweißausbrüche. Ich gestand mir ein, daß meine anfängliche Begeisterung für die Zeitungsarbeit stark gelitten hatte. Prompt fürchtete ich mich davor, daß die Armseligkeit des Bastlerlebens, indem ich sie beschrieb und gleichzeitig verheimlichte, zur Armseligkeit meines eigenen Lebens wurde. Zum ersten Mal saß ich längere Zeit vor einem leeren Blatt und fand keinen ersten Satz. Aus Not flüchtete ich noch einmal zu meiner Hundephantasie. Der Hund Wagenblaß aus Grießbrei hat mit siebeneinhalb Streichhölzern ein erstklassiges Hundedenkmal gebaut. Weitere hündische Sätze fielen mir nicht ein. Angst beschlich mich, daß ich die Freude am Schreiben verloren haben könnte. Fräulein Weber erschien in meinem Zimmer und wies mich mit zwei niedlichen Sätzen auf viele neue Sommersprossen auf ihrer Nase hin. Wieder beschuldigte ich mich der Überheblichkeit. Ich stand auf und schaute im Duden nach, was dort unter Hochmut zu finden war. Ich las: Hochmut, Eingebildetheit, Dünkel, Arroganz; ich dünke mich, ich habe eine hohe Meinung von mir, ich halte mich dafür. Ich setzte mich wieder vor das leere Blatt. Eine hoffnungslose Stimmung kam über mich. Ich war doch erst achtzehn Jahre alt! Und hatte schon einen solchen Riß im Denken! Ein Weiterleben mit dem Riß des Hochmuts schien mir unmöglich. Wenig später erinnerte ich mich an die tote Linda. In der Leere meines überheblichen Schädels entdeckte ich eine Schmerzbrücke zwischen dem Streichholzbastler und ihr. Mir fiel ein, daß Linda während des Je-ka-mi-Abends stark geraucht hatte und daß sie die abgebrannten Zündhölzer in die Zündholzschachtel zurückgesteckt hatte. Das Einschieben der gebrauchten Zündhölzer wurde zur letzten Erinnerung. Nein, es kam noch eine allerletzte dazu: In den Augenblicken, als ich ihre schwärzlich angekokelten Fingerspitzen sah, hatte ich mir gewünscht, Linda möge mich umarmen und mein Hemd beschmutzen, so daß ich mindestens bis zum nächsten Morgen ein Zeichen ihrer vorgestellten Heftigkeit hätte. Jetzt konnte ich den Artikel über den Streichholzbastler erst recht nicht schreiben. Ich nahm Wagenblaß übel, daß ausgerechnet er mich an Linda erinnert hatte. Die Buchhaltung rief an und sagte, daß meine Abrechnung fertig sei. Ich war dankbar für die Unterbrechung und ging zur Kasse ins Erdgeschoß. Für meine redaktionelle Arbeit während der Urlaubsvertretung erhielt ich eine Pauschale von 600,– Mark in bar. Das Zeilenhonorar für die Artikel, die ich in den letzten drei Wochen geschrieben hatte, wurde extra verrechnet und einen halben Monat später auf mein Konto überwiesen. Ich blieb eine Weile im Kassenraum sitzen und gewöhnte mich an das Geld in meiner Brieftasche. Zu meiner neuen Situation gehörte offenbar, daß ich jederzeit von einem Schmerz überfallen werden konnte. Es war kein wuchtiger Schmerz, der mich hätte umwerfen können, sondern ein schwächlicher, vager Schmerz, der sich wie ein Belag auf das Leben senkte. Aus Langeweile las ich den Spielplan des Stadttheaters, der im Kassenraum aushing. Die Titel der meisten Stücke und Opern, die hier angekündigt waren, hatte ich nie zuvor gehört oder gelesen. Morgen, am Samstag abend, wurde ein Stück mit dem Titel »Blick zurück im Zorn« von John Osborne gespielt. Ich kannte weder Stück noch Autor, aber der Titel gefiel mir. Ich beschloß, morgen abend ins Theater zu gehen. Der Kassier packte ein Wurstbrot aus und verzehrte es mit langsamen Bewegungen. Ich hörte es gern, wenn er mit dem Handrücken über seine Bartstoppeln fuhr. Der Beschluß, am Samstag abend ins Theater zu gehen, erleichterte mich. Nach ein paar Minuten ging ich in mein Zimmer zurück und setzte mich erneut vor die Schreibmaschine. In absolut arroganter, dünkelhafter Schnelligkeit hämmerte ich vierzig Zeilen über Erich Wagenblaß in die Maschine.
    Am Samstag abend kaufte ich mir für zwölf Mark eine Eintrittskarte für das Stadttheater. Ich saß in der zweiten Reihe, fast in der Mitte. Das Stück »Blick zurück im Zorn« begeisterte mich von der ersten Minute an. Jimmy Porter, die Hauptfigur,

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