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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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weil ich den Geruch von tausend Vergeblichkeiten, der in diesem Anzug steckte, zu lieben begonnen hatte. Manchmal stellte ich mir vor, Linda schaut aus ihrem Grab hervor und erkennt mich im Gewimmel der Menschen nur deswegen, weil ich nach wie vor meinen Staubanzug trage. Dabei wollte ich nachdenken, ob ich Herrdegens Angebot annehmen sollte oder nicht. Eigentlich gab es nicht viel zu denken. Die Verlockung von Herrdegens Angebot war enorm. Ich mußte nur ja sagen, und der Spuk der Lehre hätte ein Ende. So einfach war es mir noch nie gemacht worden, einer unangenehmen Situation zu entfliehen. Aber ich konnte das Gefühl nicht unterdrücken, daß mir auch die Arbeit beim Tagesanzeiger unbehaglich geworden war. Sowohl in der Spedition als auch bei der Zeitung war ich für die Bearbeitung grober Wirklichkeit zuständig. Als Lehrling trug ich Kisten umher, als Reporter hob ich die Eitelkeiten von Kleinbürgern (Je-ka-mi!) ins Blatt. Ich durchstreifte das Erdgeschoß des Woolworth und betrachtete eine ältere Frau, die sich ewig lange in der Abteilung Haushaltswaren aufhielt und dann doch nur ein Haarnetz für 1,50 Mark kaufte. Ich stand in einer Ecke und roch am Saum meines Sakkos. Es wurde wieder nichts mit der Anschaffung eines neuen Anzugs. Zum ersten Mal stellte ich mir vor, daß es schön wäre, wenn ich zu Hause ebenfalls einen angefangenen Roman liegen hätte. Dann würde ich jetzt rasch mein Zimmer aufsuchen und meine Manuskriptmappe öffnen. Ich verließ das Woolworth und hatte nicht entscheiden können, ob ich Herrdegens Angebot annehmen sollte oder nicht. Ich beobachtete den Kellner eines Terrassenlokals, der einen Stuhl in die Höhe hob und ihn über die Köpfe der Gäste hinweg ans andere Ende der Terrasse trug. Eine Fontäne der Sehnsucht stieg in mir empor und rief: Ja, ein Roman! Meine Seele war beeindruckt, daß sie von einem derart bedeutungsvollen Wunsch durchzuckt worden war. Sie schaute jetzt mit Wohlgefallen auf sich selbst und ihre Tollkühnheit. Ich schützte sie, indem ich reglos herumstand und wartete, bis sie ihre eigene Unaussprechlichkeit durchlebt hatte.
    Der folgende Morgen war schwül und dunstig. Die Sonne erhitzte die Luft, klarte aber den Tag nicht auf. Ich zog ein kurzärmeliges Hemd an und fragte Mutter, wie ich am besten nach Griesheim käme, aber auch sie war nie zuvor in Griesheim gewesen. Erst in der Straßenbahn erfuhr ich vom Schaffner, daß ich am Bahnhof in die Linie 14 umsteigen mußte. Die Linie 14 war eine ruhige Vorort- bahn. Die Leute saßen still auf ihren Holzsitzen und hielten mit einer merkwürdigen Starre ihre Fahrscheine in den Händen. In den Kurven schwankten die Fahrgäste, die nur einen Stehplatz hatten ergattern können, elegant wie Schlingpflanzen hin und her. Griesheim war die Heimat von Tausenden von Arbeitern, die in einer nahen Chemiefabrik beschäftigt waren. Seit Minuten fuhr die Bahn an endlosen Reihen von dunkelroten bis schwarzen Backsteinhäuschen vorbei. In einem dieser Häuschen wohnte der Rentner Erich Wagenblaß. Der Schaffner rief: Nächster Halt Griesheim. Die Bahn drosselte ihr Tempo, ich machte mich zum Aussteigen bereit. Da rief ein Kind in den Wagen: Nächster Halt Grießbrei. Ringsum erhob sich Gelächter, das rasch abklang. Die Leute schauten hinaus auf das Einerlei von kleinen Häusern, Garagen und Nutzgärten. Es war, als würden sie erst in diesen Augenblicken merken, daß sie vielleicht wirklich in einem großen Grießbrei lebten. Wahrscheinlich war es deswegen totenstill, als die Bahn hielt und ein paar Leute ausstiegen. Das Häuschen des Ehepaares Wagenblaß mußte ich nicht lange suchen. Frau Wagenblaß öffnete mir die Haustür. Sie trug ein großgeblümtes Kleid von der Art, von der auch Mutter zwei hatte. Riesige blaue Blumen zogen sich über ebenso riesige Brüste hin und verschwanden undeutlich auf dem Rücken. Frau Wagenblaß gab mir die Hand und verbeugte sich wie eine Schülerin. Herr Wagenblaß trat seitlich aus einer Tür hervor und verbeugte sich ebenfalls. Über seine rechte Gesichtshälfte huschte ein Zucken. Frau Wagenblaß sagte: Mein Mann hat nur noch ein Drittel seines Magens, müssen Sie wissen. Ahh so, machte ich. Der Rentner führte mich in die Wohnstube. Es war ein niedriger, mäßig großer Raum, der gleichzeitig Küche und Wohnzimmer war. Frau Wagenblaß bat mich, Platz zu nehmen. Sie verließ den Raum und brachte Pflaumenkuchen und Kaffee herbei. Herr Wagenblaß zeigte auf einen etwa einen Meter hohen

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