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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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redete gegen die Dummheit und Trägheit der Leute und wurde dabei bitter und wütend. Dabei sagte Jimmy Porter nichts Neues, im Gegenteil. Mehr als die Hälfte seiner Sätze hatte ich selbst schon gedacht oder gesagt, viele von ihnen mehrmals. Aber weil das Oftgesagte auf einer Bühne ausgesprochen wurde, erschien es wieder neuartig und sogar alarmierend. Die Zuschauer sahen sich untereinander beglückt in die Augen. Sie waren erregt darüber, daß ihnen ein Theaterstück half, sich endlich für die Probleme zu interessieren, von denen sie sich im wirklichen Leben nur gelangweilt fühlten. Es war, als sei das Theater ein Ort, an dem sich die Menschen eingestehen durften, daß sie das Leben oft nicht verstanden, es nicht einmal hinreichend überblickten. Diese stummen Geständnisse der Zuschauer gefielen mir fast noch besser als das Stück. Von mir aus hätte Jimmy Porter zwei oder drei Stunden lang ohne Unterbrechung weiterschimpfen können. Aber leider gab es nach dem zweiten Akt eine Pause von fast zwanzig Minuten. Die durch ihre Geständnisse festlich gestimmten Zuschauer verliefen sich im Foyer und nickten sich freundlich zu. Ich kaufte mir ein Glas Sekt und betrachtete die Frauen, die an der Seite ihrer Männer standen und lächelten oder bedeutsam schwiegen. Wieder gefiel es mir nicht, daß ich allein war. Es gab auch junge Mädchen, die allein im Theater waren. Eines von ihnen hätte ich fast angesprochen. Aber kurz zuvor trat ein junger Mann aus dem Hintergrund hervor und führte das Mädchen weg. Plötzlich erkannte ich unter den vielen dunkel gekleideten Herren den Prokuristen der Lehrfirma, an seiner Seite eine ältere Frau und ein junges Mädchen. Auch er erkannte mich, er nickte erfreut und überrascht und kam auf mich zu.
    Herr Weigand! rief er.
    Ich gab ihm die Hand und verbeugte mich.
    Darf ich Ihnen meine Frau und meine Tochter Ingrid vorstellen?
    Ich begrüßte Frau und Tochter. Die Tochter hatte eine feuchte kleine Hand, die mir gut gefiel. Der Prokurist nannte mich einen aufstrebenden jungen Mann, worüber ich nicht lachen mußte.
    Stellen Sie sich vor, sagte er, meine Tochter ist heute zum ersten Mal im Theater!
    Oh! machte ich. Und, sagte ich, zur Tochter gewandt, gefällt Ihnen das Stück?
    Sie verzog kurz den Mund, brachte jedoch kein Wort hervor.
    Wie hat Ihnen der Urlaub gefallen? fragte der Prokurist.
    Oh, sehr gut, sagte ich.
    Wo waren Sie denn? fragte er.
    In Schweden, sagte ich.
    Sehen Sie, rief der Prokurist, genau so habe ich Sie eingeschätzt! Alle Welt rennt nach Italien, aber Sie fahren nach Schweden.
    Endlich lächelte die Tochter.
    Und hatten Sie gutes Wetter? fragte der Prokurist.
    Sehr gemischt, sagte ich, wie das in Schweden eben so ist.
    Aber gelangweilt haben Sie sich nicht?
    Überhaupt nicht, sagte ich; wenn es regnete, habe ich mich in meine Waldhütte gelegt und gelesen.
    Genau wie unsere Ingrid! stieß der Prokurist hervor.
    Ich wunderte mich, wie leicht mir eine erfundene Urlaubsgeschichte von den Lippen ging und wie problemlos sie mir geglaubt wurde. Eigentlich wollte ich Ingrid fragen, welche Bücher sie schätzte, aber jetzt erzählte ihr Vater, daß Ingrid im vorigen Jahr sogar auf die Besichtigung der Gärten auf Capri verzichtet hatte, um allein im Ferienappartement lesen zu können.
    Wie finden Sie das! sagte der Prokurist.
    Es war Ingrid sichtbar nicht recht, daß ihr Vater ihre persönlichen Urlaubsgeschichten preisgab. Sie brachte ein minimal verächtliches Lächeln zustande, das mich momentweise beeindruckte. Die Entdeckung ihres Unbehagens durch mich stiftete zwischen ihr und mir den Anflug einer Privatheit, von der der Vater nichts merkte. Ingrid gefiel mir. Ich litt bereits ein bißchen, weil ich mir vorstellte, ich würde wegen der Überpräsenz ihres Vaters nicht an sie herankommen können. Ingrid trug ein dunkles Taftkleid und halbhohe schwarze Schuhe. Sie hatte ein schmales, blasses Gesicht mit starken Augenbrauen und kleinen Ohren. Einmal öffnete sie ihr kleines Täschchen. Ich sah, daß nichts weiter darin war als ein weißes Taschentuch und ein winziger Spiegel. So stellte ich mir eine Studentin vor, die sich mit der Transzendenz des Ego und solchen Sachen beschäftigte. Ich hatte (wenn ich von Linda einmal absah) bis zu diesem Zeitpunkt nur ein paar Sekretärinnen und Verkäuferinnen kennengelernt, weil leicht an sie heranzukommen war. Es genügte, sich am Abend ein paarmal vor ein Schaufenster zu stellen und einer der Verkäuferinnen im Inneren

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