Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
Dennoch kam es während der Heimfahrt zwischen Mutter und mir zu einer sanften Begegnung. Ich hatte Mutter schon vor zwei Monaten Kafkas Brief an den Vater zu lesen gegeben. Wochenlang hatte sie geschwiegen, aber jetzt, in der Straßenbahn, sagte sie plötzlich: Alles, was der junge Herr Kafka schreibt, ist wahr, wortwörtlich. Danach redete sie eine Weile über ihren Vater, ihre Brüder und zuletzt über ihren Mann. Am meisten nahm mich ihre Formulierung »der junge Herr Kafka« für sie ein. Das klang, als sei Kafka gar nicht tot, im Gegenteil, als hätten wir ihn schon öfter gesehen, weil er als junger Herr mit uns im gleichen Haus wohnte. Und jetzt saßen wir zusammen in der Straßenbahn, fuhren nach Hause und begegneten im Treppenhaus vielleicht wieder unserem vortrefflichen Nachbarn Kafka. Mutter ging sogar auf das Spiel ein, das ich kurz darauf erfand.
Würdest du Herrn Kafka, wenn wir ihn im Treppenhaus zufällig sehen, mal zum Mittagessen einladen?
Hat er denn Hunger? fragte sie.
Vermutlich, sagte ich, er arbeitet bei einer Versicherung und verdient wenig.
Und du meinst, er würde sich mit ein paar Pfannkuchen zufriedengeben?
Warum nicht? fragte ich.
Von mir aus gern, sagte sie und lachte.
Erst Mitte Februar gelang es ihr, mich in einer Spedition als kaufmännischen Lehrling unterzubringen. Eineinhalb Monate später, zum 1. April, trat ich in die sogenannte Lehrfirma ein. Ich mußte jetzt täglich von 8.00 bis 17.00 Uhr arbeiten, samstags von 8.00 bis 13.00 Uhr. Mit sechs Angestellten saß ich in einem Raum, der Lagerabteilung genannt wurde. Eine etwa dreißigjährige Kollegin, Frau Siebenhaar, sagte mir, was ich zu tun hatte. Wenn das Telefon klingelte, bestellte jemand entweder einen Fernsehapparat, eine Musiktruhe oder einen Kühlschrank. Danach schrieb ich einen Lieferschein, damit die Ware ausgeliefert werden konnte. Nach der Auslieferung schaute ich in die Gebührentabelle und tippte die Rechnung. Die Einweisung dauerte etwa zehn Minuten, dann wußte ich über die Arbeitsvorgänge in der Lagerabteilung Bescheid. Am unangenehmsten war, daß es um mich herum immer ein halbes Dutzend Zuschauer gab. Ich nahm an, daß ich ihnen nichts vormachen konnte. Dabei empfand ich nicht viel. Ich erledigte meine Arbeit und lebte abwechselnd in den Bildern des Gelingens und des Nichtgelingens. Immer wieder mußte ich mir klarmachen, daß ich vorerst keine Möglichkeit hatte, den Zustand Lagerabteilung zu beenden. Manchmal fiel mir ein Satz ein, den ich mir sofort notierte. Ich setzte mich an meinen Tisch und schrieb: Was uns zustößt, enthält kein Urteil über uns. Der Satz beeindruckte mich, aber nach einer Weile bemerkte ich, daß ich wieder nicht wußte, ob der Satz schön, wahr oder nur interessant war. Als es Abend wurde, hatte ich immerhin erkannt, daß der Satz das Denken über meine Lage in zwei Hälften spaltete. Einerseits steckte in ihm die Anerkennung der Situation, aus der es vorerst kein Entrinnen gab; andererseits war der Satz bereits ein Triumph über das Nicht-entrinnen-Können. Auf dem Heimweg empfand ich das Wohlgefühl der Innerlichkeit, das aus dem Denken hervorging. Ich ging dazu über, mich in der Mittagspause an einen Tisch mit nicht abgeräumtem Geschirr zu setzen, damit ich ungestörter auf neue Sätze warten konnte. Dennoch war immer zuviel Lärm und Bewegung um mich herum. Außer mir waren noch fünf weitere Lehrlinge eingestellt worden, darunter ein Mädchen. Sie geisterten mit ihren Tabletts zwischen den Tischen umher und trauten sich nicht, sich neben Frau Siebenhaar oder Herrn Bremeier zu setzen. Leider gab es nicht viel, was ich mit den anderen Lehrlingen besprechen konnte. Sie waren bloß jung und hatten keine geheimen Pläne. Mit einer Ausnahme: Anselm Marquard. Er war schon fast zwanzig Jahre alt und fiel mir durch seine nervösen, fliehenden Bewegungen auf. Er war der einzige, der die Idee meines Selbstschutzes in der Kantine (das Sitzen an unaufgeräumten Tischen) zuerst durchschaute und dann ignorierte. Auf einmal saß er neben mir an einem Tisch mit besonders viel stehengebliebenem Geschirr. Wir lachten über die Worte STAMMESSEN I und STAMMESSEN II auf der Speisekarte. Stammessen I war in der Regel ein Schnitzel mit Bratkartoffel und Salat, Stammessen II war entweder ein Gemüseeintopf, eine Linsensuppe oder ein Eiersalat. Wir fragten uns gegenseitig, ob wir auch eine Stammfrau, eine Stammunterhose oder eine Stammseife hätten. Ich erfuhr, daß Anselm an zwei Abenden
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