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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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sie sich in einen erbitterten Streit mit sich selbst, denn sie begreift, dass sie irgendwo in ihren hintersten Winkeln sehr unter Druck ist: Was wird Avram von Ofer halten? Wird er enttäuscht sein, wenn er von ihm erfährt … Aber was für ein Recht hat er überhaupt, enttäuscht zu sein, ihre Wut schäumt, was hat er in den einundzwanzig Jahren in ihn investiert? Sie läuft schneller, überholt ihn, geht vor ihm her und massiert sich dabei den Schädel, der sich jeden Augenblick mehr aufzublähen scheint, schwer wird und gleichsam ihren ganzen Körper nach hinten zieht. Und sie wird immer wütender, weil sie sich endlich eingesteht, wie wichtig es ihr ist, dass Avram Ofer liebt, ja, liebt, dass er sich auf der Stelle und rückhaltlos in ihn verliebt, sich wider Willen in ihn verliebt, so wie er sich damals in sie verliebt hat, an der überhaupt nichts Großartiges war. Als er sich in sie verliebt hatte, war sie doch ein kranker Mensch gewesen, kraftlos, vollgepumpt mit Medikamenten, dämmerte Tag und Nacht vor sich hin, und Avram befand sich in genau demselben Zustand, also in der optimalen Verfassung, sich in mich zu verlieben, denkt sie und wird vor Erschöpfung etwas langsamer. Vielleicht war es ja wirklich so, wie er selbst Jahre später lachend gesagt hatte: Nur so konnten sich das Id der Jiddene und das Id des Jidd begegnen . Plötzlich ist es, als gehe ihr die Kraft aus, und sie bleibt stehen, atmet schwer und mit Schmerzen und presst sich die Finger zwischen die Augenbrauen. Diese Gedanken, woher kommen all diese Gedanken, und wer braucht sie jetzt?
    Avram sieht sie schwanken, springt zu ihr, und einen Moment bevorsie fällt, fängt er sie auf. Wie stark er ist, staunt sie wieder, ihre Knie knicken ein, und er legt sie mit einer unglaublich sanften Bewegung auf die Erde, nimmt ihr schnell den Rucksack ab und lehnt ihren Kopf daran, kickt einen spitzen Stein unter ihrem Rücken weg und nimmt ihr auch die Brille ab, gießt sich Wasser aus der Flasche in die Hand und massiert behutsam ihr Gesicht. Mit geschlossenen Augen liegt sie da, ihre Brust hebt und senkt sich schwer, kalter Schweiß bricht ihr aus. Da siehst du, wie das Hirn arbeitet, murmelt sie. Sprich jetzt nicht, sagt er, und sie hört auf ihn. Seine Fürsorge tut ihr gut, seine Hand auf ihrem Gesicht, der stille Befehl in seiner Stimme.
    Ich hab mich erinnert – sagt sie später, ihr Arm hängt schlaff und hält sein Handgelenk –, hast du mir nicht mal von einem Hörspiel oder einer Geschichte erzählt, über eine Frau, die von ihrem Geliebten verlassen wird, und man hört nur, wie sie am Telefon mit ihm redet, und ihn hört man nicht? Cocteau, sagt Avram sofort, lächelt, Die menschliche Stimme heißt das. Ja, Cocteau, wie gut du dich erinnerst … Sie spürt das Wasser auf ihrem Gesicht trocknen. Sie sieht einen von Sträuchern bewachsenen Bergrücken und ein Stück sehr blauen Himmel. Scharfer Salbeigeruch weht ihr in die Nase. Seine Hand ist so weich wie damals, denkt sie, wie kommt es, dass ihm die Zartheit und die Weichheit geblieben sind? Sie schließt die Augen und fragt sich, ob man ihn wohl aus diesem kleinen Überbleibsel wieder aufbauen kann. Du warst damals in deiner französischen Phase, sagt sie lächelnd, und in deiner Hörspielphase. Weißt du noch? Du hattest eine ganze Theorie über die menschliche Stimme und warst überzeugt, dass das Radio das Fernsehen besiegen würde, du hattest dir zu Hause ein kleines Aufnahmestudio eingerichtet. Avram lächelt: nicht zu Hause, im Schuppen im Hof. Ein richtiges Studio hatte ich da. Ganze Tage und Nächte hab ich da gesessen und aufgenommen und geschnitten, geklebt und gemixt.
    Nachdem Ilan mich das erste Mal verlassen hat, flüstert Ora, nach Adams Geburt, da haben wir manchmal miteinander telefoniert, und ich glaube, da hab ich mich wie diese Frau aus der Geschichte von deinem Cocteau angehört, so erbärmlich, alles vergebend, voller Verständnis für seine Probleme, seine Probleme mit mir, dieser Scheißkerl … Avram nimmt seine Hand von ihrer Stirn. Sie öffnet die Augenund sieht ein Zögern auf seinem Gesicht, das sich dann vor ihr verschließt.
    Gleich nach Adams Geburt hat er mich verlassen, sagt sie, wusstest du das nicht?
    Das hast du nicht erzählt.
    Du weißt wirklich gar nichts, seufzt sie, du bist völlig ahnungslos in meinem Leben.
    Avram steht auf und schaut in die Ferne. Ein Falke zieht seine Kreise hoch über seinem Kopf am Himmel.
    Furchtbar, wie fremd du bist, murmelt

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