Eine Frau flieht vor einer Nachricht
was soll sie ihm jetzt erzählen, welchen Köder wird sie ihm jetzt hinwerfen? Etwas Bestechendes, etwas Leichtes, Lustiges braucht sie, jetzt sofort, etwas, das ihn zum Lachen bringt und ihn mit Liebe und Wärme für Ofer erfüllt. Da, sie hat etwas, sie muss nur noch ein bisschen Kräfte sammeln, wie Ofer mit drei Jahren darauf bestand, in seinem Cowboykostüm, das aus einundzwanzig Kleidungsstücken und Ausrüstungsteilen bestand, in den Kindergarten zu gehen. Einmal hatten sie alle gezählt, und ein ganzes Jahr lang hatte er ihnen verboten, auch nur ein Teil davon wegzuwerfen. Ihre Augen werden klarer, das Chaos in ihrem Kopf beruhigt sich, genau solche Dinge muss sie ihm erzählen, süße Erlebnisse, Anekdoten aus Ofers Leben, nichts Schwereres oder Schwierigeres als das: zum Beispiel heiter die Morgenstunden jenes Jahres beschreiben, wie Ilan und sie mit Waffentasche und Munitionsgürtel um Ofer herumrennen, wie Ilan auf der Suche nach dem Sheriffstern oder dem roten Halstuch unters Bett kriecht, wie sie gemeinsam jeden Morgen neu mit aller Sorgfalt umdas zerbrechliche Gerüst des winzigen Ofer die Figur eines mutigen Kämpfers errichten.
Aber das würde ihn nicht wirklich interessieren, widerspricht sie sich sofort, diese Einzelheiten, Tausende Momente und Dinge, die man tut, wenn man ein Kind großzieht, dafür wird er keine Geduld haben, denn letztlich ist das vor allem für Männer ziemlich langweilig und ermüdend, das weiß sie, und im Grunde für jeden, der das Kind, um das es geht, nicht kennt, obwohl es natürlich ein paar, wie soll man sagen, besonders bedeutsame Geschichten gibt, die Avram vielleicht für Ofer gewinnen könnten …
Aber warum, verdammt noch mal, muss ich ihn überhaupt für Ofer gewinnen? protestiert sie, und der Kopfschmerz, der sich schon etwas zurückgezogen hatte, stürzt sich wieder auf sie, krallt sich an die bekannte Stelle hinter dem linken Ohr. Muss ich Ofer denn vermarkten? Ihn zu Ofer verführen?
Wie ist es möglich, seufzt Ora im Stillen, springt mit einem Satz auf und läuft los, rennt beinahe, wie kann man ein ganzes Leben erzählen, dazu reicht ein Leben nicht aus, und womit fängt man an, vor allem sie, die nicht in der Lage ist, auch nur eine kleine Geschichte von Anfang bis Ende zu erzählen, ohne abzuschweifen und die Pointe zu verpatzen, sie soll wissen, wie man richtig von Ofer erzählt? Und vielleicht wird ihr auch klarwerden, dass sie gar nicht so viel von ihm zu erzählen weiß.
Das heißt – es gibt natürlich unendlich viel von ihm zu erzählen, und trotzdem erschrickt sie plötzlich bei dem Gedanken, sie würde, wenn sie zwei oder drei oder fünf oder sogar zehn Stunden am Stück von ihm erzählte, vielleicht tatsächlich die wichtigsten Dinge erzählt haben. Sie würde zusammenfassen, konzentrieren. Aber wie konnte das schon alles sein, was sie von ihm zu erzählen hätte, wo sie doch noch vor einem Moment gedacht hatte, ein ganzes Leben reiche dazu nicht aus. Vielleicht zog genau diese Angst ihr das Hirn zusammen. Und mit derselben Grausamkeit gegenüber sich selbst, die sie sich in letzter Zeit angewöhnt hat, antwortet sie sich, dies sei vielleicht gerade die Antwort auf das bedrückende, schon eine Weile in ihr nagende Gefühl: Sie kennt ihn, ihren Sohn Ofer, nicht wirklich.
Der Puls in ihrem Hals schlägt schmerzhaft. So schnell ist die geradeerst aufgeflammte winzige Freude gewelkt. Wirklich, wovon soll sie ihm erzählen? Von Ofer in der Schule? Von seiner Kindergartenzeit? Vom Militär? Von dem Einsatz in Hebron? Doch was würden Avram diese kleinen dummen Geschichten bringen, wie kann man überhaupt einen ganzen Menschen beschreiben und bloß mit Worten zum Leben erwecken? Mein Gott, bloß mit Worten?
Verärgert gräbt sie in ihren Tiefen, als würde Avram, wenn sie noch einen Moment länger schweigt, denken, sie habe wirklich nichts zu erzählen. Doch alles, was sie bei ihrem Bohren zutage fördert, erscheint ihr banal und nebensächlich, nur lauter nette Anekdoten – wie Ofer allein bei Har Adar eine verschüttete kleine Quelle ausgrub, indem er das Austrittsloch freilegte, so dass sie wieder fließen konnte, und dort einen Obstgarten anlegte; oder sollte sie ihm von dem herrlichen Bett erzählen, das er eigenhändig für sie und Ilan gebaut hatte? Und sind eine Quelle oder ein Bett wirklich so spannend? Geschichten, die auf Hunderte von jungen Männern passen, die nicht weniger klug und süß und hinreißend sind als Ofer. Da zieht in
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