Eine Frau flieht vor einer Nachricht
ihr der Gedanke auf, Ofer besitze zweifellos viele gute und besondere Eigenarten, aber vielleicht nicht einen einzigartigen, außergewöhnlichen Zug, durch den er die anderen überragt. Ora wehrt sich mit aller Kraft gegen diesen abscheulichen Gedanken, der ihr so fremd ist. Wieso ist das wichtig? Wie ist sie überhaupt auf so einen Gedanken gekommen? Aber hier, warte, zum Beispiel der Film, den er im Kinokurs in der zehnten Klasse als Hausarbeit gemacht hat, der war wirklich etwas Besonderes, Avram würde die Idee bestimmt mögen, und sie schaut kurz zu ihm rüber, sieht den zwischen die hängenden Schultern eingezogenen Kopf und denkt, vielleicht auch nicht.
Dieser Film hatte etwas Beunruhigendes gehabt. Noch heute, fünf Jahre später, rumort er in ihr. Elf Minuten, mit ihrer Heimvideokamera gedreht. Die Beschreibung eines normalen Tages im Leben eines normalen Jugendlichen, Familie, Schule, Freunde, Freundin, Basketball, Unternehmungen – und keine einzige Gestalt aus Fleisch und Blut, nur die Schatten der Gestalten; laufende Schatten, einzeln oder zu zweit oder sogar in einer Gruppe: Schatten sitzen im Unterricht, Schatten essen zu Mittag, küssen sich, schmusen, trommeln, trinken Bier. Und wie bei den anderen Malen, als sie Ofer gefragt hatte, was füreine Idee denn dahinter stecke oder welche Absicht er gehabt habe, als er den Film machte (auch bei den leeren Gipshüllen von sich selbst, die er für jene sonderbar bedrückende Installation gegossen und in der Abschlussausstellung seiner Klassenstufe gezeigt hatte, oder bei dem Zyklus bedrohlicher Fotografien seines Gesichts mit dem Adlerschnabel, den er sich auf allen Bildern mit einem Kohlestift angemalt hatte) – immer hatte er nur mit den Schultern gezuckt und gesagt, keine Ahnung, ich dachte mir eben, dass ich so was gern mal machen würde. Oder: Ich wollte einfach jemanden fotografieren, und außer mir war grad keiner da. Und wenn sie weiterfragte – Ilan erklärte ihr später, sie habe ihn mal wieder überschwemmt –, hatte er ihre Frage ungeduldig abgeschmettert: Muss es denn für alles eine Erklärung geben? Kann denn nichts einfach so passieren? Muss man jede Kleinigkeit bis auf die Knochen analysieren?
Dabei hatte Ora die Aufnahmen für den Film über drei Wochen begleitet, sie war die Fahrerin, die Maskenbildnerin, verantwortlich für die Bewirtung, das Mädchen für alles, und nicht selten hatte sie auch die Rolle des wütenden Schäferhunds gespielt, der pausenlos hin und her rannte, um die widerspenstigen Schauspieler, Freunde aus seiner Klasse, zusammenzutreiben, die immer wieder die Proben und den Aufnahmetermin schwänzten, und wenn sie sich dann endlich herbeibemüht hatten, dann diskutierten sie frech und arrogant mit Ofer, was Ora verrückt machte. Sobald ein Streit ausbrach, machte sie sich aus dem Staub. Damals war er noch kleiner als die meisten seiner Mitschüler, empfindlich, stand etwas abseits, und Ora konnte es nicht ertragen, wie er ihnen mit hängendem Kopf gegenüberstand und seine Unterlippe zu zittern begann. Doch sie sah auch: Er ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen, er igelte sich ein, verkroch sich, sein Gesicht verzerrte sich unkontrolliert vor Verletzlichkeit und Kränkung, doch er gab keinen Millimeter nach.
Auch sie hatte in dem Film mitgespielt. Die Rolle einer nervenden, schnüffelnden Lehrerin hatte er ihr zugedacht, und Ilan fuhr irgendwo im Hintergrund auf dem Motorrad vorbei, winkte und verschwand – am Schluss gab es eine hübsche Zeile im Abspann: »Danke auch an Mama und Papa, die ihren Schatten beisteuerten.« Und jetzt fragt sie sich, ob Avram denken würde, dass es, sagen wir, in diesem Film etwasBesonderes gab, einen Glanz, etwas Einmaliges – alles typische Avram-Worte, die sich in ihr automatisch in seiner Melodie meldeten, wenn er mit ihr und Ilan zum Beispiel aus einer Theater- oder Filmvorstellung gekommen war, die ihn sehr bewegte. Da hatte er mit der Zunge das Wort befühlt, das ihn in diesem Moment am meisten erbeben ließ: »großartig« – und heiser, erregt, ehrfürchtig und begleitet von einer herrschaftlichen, ausladenden Handbewegung »groooßartig!« geflüstert. Wie alt war er damals gewesen? Vielleicht zwanzig, oder einundzwanzig? So alt wie Ofer heute, kaum zu glauben, und noch schwerer zu glauben, wie hochmütig und anmaßend er gewesen war. Wie hatte sie ihn überhaupt ertragen, mit diesem blöden Bärtchen, das er sich damals wachsen ließ …
Und schon verstrickt
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