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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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sie. Was mach ich überhaupt hier mit dir? Sie stößt ein kurzes, bitteres Lachen aus. Wenn ich nicht solche Angst hätte, nach Hause zu gehen, würde ich in diesem Moment umkehren.
    Vielleicht weil er über ihr steht, erinnert sie sich: Ofer war ein Jahr alt gewesen. Sie hatte in ihrem Zimmer auf dem Bett gelegen und ihn auf ihren Händen und Füßen durch die Luft bewegt. Flugzeug hatten sie gespielt, und er lachte, er strampelte, und der helle Schein seiner feinen Haare hob und senkte sich mit seinen Bewegungen. Das Sonnenlicht vom Fenster her, schien durch seine Ohren, sie leuchteten in einem durchsichtigen Orange. Sie standen sehr vom Kopf ab, wie heute noch. Sie hatte ihn ein bisschen im Licht bewegt und in ihnen das Geflecht feiner Fasern, weicher Windungen und kleiner Knubbelchen entdeckt. Plötzlich war sie still und konzentriert gewesen, als würde sich ihr gleich ein Geheimnis offenbaren, das nicht in Worte zu fassen war. Ihr Gesicht hatte sich wohl verändert, denn Ofer hörte auf zu lachen und betrachtete sie ernst, seine Lippen wurden schmal und spitzten sich zu dem weisen, vielleicht sogar etwas ironischen Ausdruck eines alten Mannes. Sie dachte, wie wundervoll und präzise alle seine Glieder waren. Eine große Süße erfüllte sie. Sie drehte ihn langsam auf ihren Füßen, bewegte ihn hin und her und fing in einem seiner Ohren den ganzen Sonnenball.

    Die Wunde war etwa fausttief gewesen, unaufhörlich quoll aus ihr zäher Eiter. Sie befand sich nah an der Wirbelsäule, und über Monate gelang es den Ärzten nicht, sie zu heilen. Dieses Hervorquellen hatte etwas Erschreckendes und Hypnotisierendes, eine Art Hohn des Körpersüber die unermüdliche Fülle, die immer aus Avram hervorquoll. Über viele Monate, fast ein Jahr lang, war die Wunde Mittelpunkt des Interesses und der Sorge von Ora, Ilan und vielen Ärzten gewesen. Man hatte das Wort »Wunde« so oft gesagt, dass es manchmal so wirkte, als löse sich Avram immer mehr auf; die Wunde wurde zur Hauptsache seines Wesens, während sein Körper nur noch als Untergrund diente, aus dem die Wunde die Flüssigkeiten zog, die sie zum Leben brauchte.
    Zum soundsovielten Mal hatte Ilan an diesem Tag den Gazebausch in den Eiter getaucht, ihn vorsichtig im Krater des Fleisches gedreht, damit er sich vollsog, und ihn in den Abfalleimer geworfen. Ora hockte auf dem Stuhl an Avrams Bett, beobachtete Ilans Hand und dachte, wie richtig seine Bewegungen waren, wie er es schaffte, in der Wunde zu graben, ohne weh zu tun. Als Avram eingeschlafen war, schlug sie ihm vor, ein bisschen an der frischen Luft spazieren zu gehen. Sie drehten ihre Runde auf den Wegen zwischen den kleinen Häuschen und unterhielten sich, wie meistens, über Avrams Zustand, die nächste anstehende Operation und über seine finanziellen Schwierigkeiten mit dem Sicherheitsministerium. Sie setzten sich auf eine Bank neben dem Röntgeninstitut, ein bisschen voneinander entfernt; Ora sprach von Avrams gestörtem Gleichgewichtssinn, für den die Ärzte noch keine Ursache gefunden hatten, und Ilan murmelte, man muss auch nach dem eingewachsenen Fußnagel schauen, der kann ihn später wahnsinnig machen, und ich glaube auch, dass sein Durchfall mit diesem Novalgin zusammenhängt – und sie dachte, Schluss jetzt, es reicht, drehte sich zu Ilan, überwand einen Abgrund und küsste ihn auf den Mund. Wie viel Zeit war vergangen, seit sie sich berührt hatten! Ilan erstarrte zuerst und zog sie dann zögernd an sich. Einen Moment bewegten sie sich vorsichtig, als wären ihre Körper von einer Schicht Glassplitter überzogen, und beide waren überrascht, mit welcher Intensität ihre Körper Feuer fingen, als hätten sie nur darauf gewartet, dass man sie um Trost bitten würde. Am Abend dieses Tages fuhren sie nach Zur Hadassa in Avrams leeres Haus, in dem sie seit seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft wohnten und das sie zu einer Art Einsatzzentrale für alle mit seiner Behandlung zusammenhängenden Angelegenheiten hergerichtet hatten. Dort, in seinem Jugendzimmer – an der Tür stand »Eintritt nur für Verrückte, kostet den Verstand«, eine Warnung, die ermit fünfzehn geschrieben hatte –, hatten sie auf einer eilig auf den Boden gezerrten Matratze Adam gezeugt.
    Sie weiß nicht, woran Avram sich noch erinnert aus der Zeit im Krankenhaus, als er operiert wurde, in der Reha war und auch immer wieder von Vertretern der Sicherheitsdienste verhört wurde, die nicht von ihm abließen und ihn mit ihren

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