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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Hunderter von Mädchen nicht mehr stolz und aufrecht gehen – die sagenumwobene Stadt der Frauen, die in seinen Phantasien von einem Soundtrack immerwährenden feuchten Stöhnens und von verschleierten, sehnsüchtigen Blicken begleitet war. Hier aber gärte ein wespenhaftes Gekicher, von allen Seiten verächtliche Kleopatrablicke, da rannte ihm plötzlich aus der Ferne eine große, unbeholfene Soldatin mit etwas seitlich ausgestellten Füßen entgegen, in einem Sack von Uniform, mit verbeulter Schirmmütze, einer Flut hüpfender roter Locken, Kirschmund, die Arme ausgebreitet, und schrie glücklich quer durch das ganze Lager: »So viel Avram!«
    Dass sie mich so verletzt hat, spricht Ora einen Satz weiter, dessen Anfang Avram verpasst hat – wie hatte sie ihm dort im Camp entgegengejubelt,wie kam es, dass sie sich vor den andern seiner nicht schämte? –, Talia hat mich noch nicht einmal angerufen, um es mir zu erklären, um sich zu verabschieden, gar nichts. Von heut auf morgen war sie verschwunden. Und ehrlich gesagt quält mich außer der Kränkung auch der Gedanke, warum sie ihn wohl verlassen hat. Denn in der Zeit, die sie bei uns war, hatte ich gemerkt, dass ich auf ihr Urteil bauen und ihren Beobachtungen vertrauen kann, und ich versuchte zu verstehen, ob sie wegen etwas an Ofer gegangen ist, das ich vielleicht selbst nicht sehe.
    Seine Verschlossenheit vielleicht, murmelt sie und meint ebendiese Böe leichten Zorns, manchmal nur abweisend, manchmal aber auch spöttisch, die in letzter Zeit von ihm ausgeht und sich besonders gegen alles und jeden richtet, der nicht direkt mit dem Militär zu tun hat. Verschlossen war er schon vor der Armee gewesen, sehr sogar, betont sie für Avram, aber gerade mit Talia hat er sich ein bisschen geöffnet, auch uns gegenüber, mit ihr ist er richtig aufgeblüht.
    Ich rede, staunt sie wieder, und er stoppt mich nicht. Wie ist das möglich?
    Es gibt da einen Menschen, der heißt Ofer, denkt Avram angestrengt, als kämpfe er mit sich, das Schildchen mit dem Namen Ofer auf die undeutliche, immer wieder entgleitende Skizze seiner Seele zu kleben, die sich in ihm, während Ora redet, ununterbrochen windet – und Ora erzählt mir jetzt eine Geschichte über ihn. Ich höre Oras Geschichte über Ofer. Ich muss nur zuhören. Mehr nicht. Sie wird die Geschichte erzählen, und danach wird es vorbei sein. So eine Geschichte dauert keine Ewigkeit. Ich kann inzwischen an alles Mögliche denken. Sie wird weiterreden. Es ist bloß eine Geschichte. Ein Wort und noch ein Wort.
    Ora ist unruhig, versucht zu entscheiden, was sie Avram als Nächstes von Ofer erzählen soll, wieso hat sie ihm plötzlich die Geschichte, wie Talia ihn verlassen hat, zugemutet, warum hat sie damit angefangen, warum hat sie Ofer ausgerechnet in seiner Schwäche präsentiert? Sie muss ihn in erfreulichere Gefilde führen, vielleicht erzählt sie ihm von seiner Geburt, alle hören gern von Geburten, Geburten sind im Konsens, andererseits – sie wirft ihm einen Blick von der Seite zu, was interessieren ihn Geburten, eine Geburt würde ihn bloß abstoßen,und im Grunde war es auch für sie noch zu früh, so nackt und aufgerissen vor ihm zu liegen, und mit Sicherheit würde sie ihm nicht erzählen, was vor der Geburt gewesen war, an jenem frühen Morgen, den sie aus dem Buch ihres Lebens gelöscht hatte. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, konnte sie es nicht glauben; ein Wahnsinn war damals in sie und Ilan gefahren, und über Jahre war diese Erinnerung mit Angst und auch mit bitteren Schuldgefühlen besetzt. Wie hatte sie sich dazu verführen lassen, wie konnte es sein, dass sie damals Ofer in ihrem Bauch nicht geschützt hatte, wie war es möglich, dass der Instinkt, der bei jeder normalen, natürlichen Mutter existieren sollte, gerade da versagte. Wer weiß, ob Ofer nicht dadurch einen Schaden davongetragen hat, vielleicht liegt dort der Grund für das leichte Asthma, das er als Kind hatte? Vielleicht kam daher auch der klaustrophobische Anfall im Aufzug? Bei diesen Erinnerungen zuckt sie zusammen, aber wie zum Trotz kehren die Bilder zurück, das fremde Feuer in Ilans Augen, die Umarmung, die sie beide zusammenzwang, das Stöhnen, das aus ihnen herausbrach, und ihr Bauch, der bebte und gestoßen wurde, zwei Tiere ohne Haut kämpften und vereinigten sich. Komm. Wir setzen uns mal hin, mir ist ein bisschen schwindlig. Sie lehnt den Kopf an die Felswand, trinkt in schnellen Zügen und reicht ihm die Wasserflasche weiter,

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