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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Ora kennt seinen Gesichtsausdruck nur zu gut.
    Als Kind ist er immer größer als Ofer gewesen – na ja, vergiss nicht, er ist auch drei Jahre älter – aber als Ofer anfing sich zu entwickeln und zu wachsen, hat sich das auf einen Schlag geändert und völlig umgekehrt.
    Und jetzt ist …
    Ja.
    Was?
    Ofer ist größer. Viel größer.
    Tatsächlich, staunt Avram, sogar viel größer?
    Ich hab doch gesagt, er hat einen Schub getan und ihn mit einem Sprung überholt, fast um einen Kopf.
    Was du nicht sagst …
    Dann ist er im Grunde, sagt Avram, zieht die Wangen ein und geht schneller, auch größer als Ilan?
    Ja, das ist er.
    Schweigen. Es macht Ora beinah verlegen.
    Aber Ilan ist groß, bemerkt er vorsichtig.
    Ja.
    Wie groß ist Ilan? Eins achtzig?
    Etwas mehr.
    Was du nicht sagst … Der Funke eines gelungenen Streichs blitzt in seinen Augen auf. Das hätte ich nicht gedacht, murmelt er erstaunt, ich habe überhaupt nicht gedacht, dass er mal so würde.
    Was hast du denn gedacht?
    Ich habe nichts gedacht, sagt er wieder, diesmal mit weniger Nachdruck, seine Stimme ist kaum zu hören. Ich habe kaum was gedacht, Ora, wenn ich es versucht habe … Er hebt die ausgebreiteten Arme in einer Geste, die vielleicht eine Frage ausdrückt, vielleicht auch das langsame Hochgehen einer Bombe
    Sie denkt an die vielen schwarzen senkrechten Striche an der Wand über seinem Bett. Sie beherrscht sich und fragt nicht, wovor hattest du dann so große Angst, wenn du nichts gedacht hast? Wen hast du drei Jahre lang und vielleicht einundzwanzig Jahre lang so aus der Ferne beschützt, unter der Bedingung, dass du nur ja nichts über ihn erfährst?
    Wie alt ist Adam heute?
    Vierundzwanzig und ein bisschen.
    Schon groß.
    Fast so alt wie ich, zitiert sie einen alten Witz von Ilan. Avram schaut sie an, versteht schließlich, nickt höflich.
    Und was ist mit ihm?
    Mit Adam? Hab ich dir doch erzählt.
    Das … das hab ich wohl nicht mitgekriegt.
    Adam ist mit Ilan unterwegs, sie reisen durch die Welt. Südamerika. Ilan hat ein Jahr Urlaub genommen. Die beiden machen sich, wie es aussieht, ein verrücktes Leben. Sie wollen gar nicht mehr nach Hause kommen.
    Aber Adam, sagt Avram, tastet sich vor, und Ora hat den Eindruck, als lerne er gerade die Melodie des Fragens. Was macht er sonst so? Ich meine, arbeitet er was, studiert er?
    Er sucht noch, du weißt, heute suchen die Kids ziemlich lange. Und er hat eine Band. Hab ich dir das erzählt?
    Ich erinnere mich nicht. Vielleicht. Er zuckt hilflos mit den Schultern. Ich weiß nicht, wo ich war, Ora. Erzähl es mir nochmal, von Anfang an.
    Er ist ein Künstler, sagt Ora. Ihre Stirn hellt auf, Adam ist ein echter Künstler in der Seele.
    Schweigen, es wird immer dicker und lärmender, und eine Frage wird nicht gestellt. Ora spürt plötzlich, dass alles etwas leichter würde, wenn sie Avram sagen könnte, dass auch Ofer in der Seele ein Künstler ist.
    Eine Band? brummt er, was für eine Band?
    Hip-Hop, so was in der Art, frag mich nicht, sie winkt ab, die spielen schon lange zusammen, er und seine Kumpels. Sie arbeiten jetzt an ihrer ersten CD, es gibt sogar ein Label, das sie nehmen würde. Eine Art Hip-Hop-Oper, ich versteh davon wirklich nichts. Furchtbar lang, dreieinhalb Stunden. Etwas übers Exil. So ein Zug von Exilanten, Unmengen von Exilanten.
    Ach ja?
    Ora und Avram gehen. Beim Durchqueren des Gebüschs hören sie das Kratzen an den Schuhen.
    Da ist eine Frau, Ora erinnert sich an etwas, was sie zufällig aufgeschnappt hat, als Adam mit einem Freund am Telefon sprach, die zieht mit einem langen Faden quer durchs Land und rollt ihn hinter sich ab.
    Einen Faden?
    Ja, einen roten. Sie rollt ihn über das ganze Land.
    Warum?
    Keine Ahnung.
    Was für eine Idee, murmelt er. Um seine Augen rötet sich die Haut.
    Adam und seine Ideen, sagt sie hilflos, erschrickt etwas vor Avrams plötzlicher Erregung.
    So als ob das Land da zerrissen oder aufgeribbelt ist?
    Vielleicht.
    Und diese Frau gibt dem Land jetzt den Faden, um es … Avram hält an dieser Idee fest.
    Ja, so etwas Symbolisches.
    Das ist stark. Und die Exilanten, woher sind die?
    Weißt du, sagt Ora eilig, seine Band ist eine richtig ernste Clique, die haben recherchiert und über alle möglichen Orte im Land gelesen, auch über die Anfänge des Zionismus, sie haben in den Archiven der Kibbuzim gestöbert, im Internet gesucht und Leute befragt, was das Wichtigste wäre, was sie mitnehmen würden, wenn sie sofort fliehen müssten. Damit ist

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