Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Fragen.
Avram erholte sich von einer weiteren Operation. Ora brachte ihm ein kleines Album. Sie hatte die Fotos von allem gesäubert, was ihm irgendwie hätte weh tun können, vom Hintergrund des Hauses, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, von seinem Zimmer, seinem Garten. Er blätterte das Album schnell durch, verweilte eigentlich bei keinem Bild. Er lächelte nicht. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Nach ein paar Seiten klappte er es zu.
Soll ich es dir dalassen?
Nein.
Ich lass es gerne hier. Was stört’s dich?
Ein schöner Junge, sagte er, und sie hatte gespürt, wie schwer ihm die Zunge im Mund lag.
Er ist wunderbar. Du wirst ihn kennenlernen.
Nein, nein.
Nicht jetzt. Irgendwann mal. Wenn du es willst.
Nein, er fing an, wild den Kopf zu schütteln, nein, nein, nein, sein ganzer Körper schüttelte sich, bis der Rollstuhl wackelte, Ora packte ihn mit beiden Händen, schrie, jetzt beruhige dich, beruhig dich doch, eine Schwester kam angerannt, dann noch ein Krankenpfleger, man zog sie von ihm weg, sie sah, wie er kämpfte, mit einem Schlag waren alle seine Kräfte zurückgekehrt, als habe er endlich verstanden, was ihm wirklich passiert war. Sie sah, wie sie ihm eine Spritze gaben, und danach das Erschlaffen und Abstumpfen der Sinne, wie sein Gesicht wieder eintrübte.
Sie erzählte Ilan am Telefon davon, und der schimpfte. Sie hätte sich doch denken können, was die Bilder bei Avram auslösten. Das ist, als ob du einen Toten noch folterst, schrie er, du gehst auf den Friedhof, stellst dich an sein Grab und prahlst mit deinem Leben.
Doch als Ilan ihn am nächsten Tag besuchte, bat Avram ihn, das Album mitzubringen. Ora legte es nachts vor die Tür des Schuppens,klopfte an und ging langsam zurück ins Haus. Nach ein paar Minuten sah sie durchs Fenster, wie Ilan herauskam, sich umblickte, das Album aufhob und mit hineinnahm. Von ihrem Platz am Fenster aus blätterte sie das Album mit Ilan zusammen durch. Hinter dem Vorhang des Schuppenfensters sah sie Ilan danach auf und ab gehen, auf und ab.
Avram beendete die Reha und weigerte sich, in das Haus in Zur Hadassa zurückzukehren. Ilan mietete für ihn eine nette Wohnung in Tel Aviv, und abwechselnd machten Ora und Ilan dort sauber und bereiteten sie auf seine Ankunft vor. An einem stürmischen Regentag zu Beginn des Winters brachte Ilan Avram in seine Wohnung, und Avram begann sein neues Leben. In den ersten Wochen hatte er rund um die Uhr einen Betreuer, den das Verteidigungsministerium bezahlte, aber den wollte er loswerden. Die Rehabilitationsabteilung versuchte, ihn für verschiedene Arbeiten zu interessieren. Arbeit ermüdete ihn schnell, er war nicht in der Lage, regelmäßig zur Arbeit zu gehen. Ora redete immer wieder mit den Rehabilitationsbeauftragten, feilschte für Avram, stritt für ihn, versuchte, eine Arbeit zu finden, die zu ihm, zu seinem Charakter und seinen Begabungen passte. Die für ihn Zuständigen behaupteten, er sei einfach arbeitsscheu, er interessiere sich für nichts. Ora spürte einen Anflug von Ungeduld ihm gegenüber. Man gab ihr zu verstehen, ihre Erwartungen an Avram seien unrealistisch.
Avram begann, alleine aus dem Haus zu gehen. Manchmal versuchte sie stundenlang, ihn zu erreichen, und er war nicht da, dann bekam sie Angst, rief Ilan an, und der sagte: Jetzt bedräng ihn doch nicht.
Und wenn er sich was angetan hat?
Könntest du ihm einen Vorwurf machen?
Avram ging am Strand spazieren. Er ging ins Kino. Er saß in Parks, kam sogar mit fremden Leuten ins Gespräch, gewöhnte sich nette Umgangsformen an und so eine angenehme, aber hohle Freundlichkeit. Ilan bewunderte das Tempo seiner Genesung. Ora spürte, dass er ihnen etwas vorspielte. Wenn sie ihn zweimal die Woche besuchte, war er frisch, sauber und rasiert, »er hält sich gut«, berichtete sie Ilan. Er lächelte häufig, auch wenn es nicht sein musste, und quatschte eine ganze Menge. Sein Wortschatz wurde reicher, und wenn er Wörter »von Avram« benutzte, blühte Ora auf vor Glück. Doch schnell wurde ihr klar, dass die Gespräche mit ihm thematisch sehr begrenzt waren:Von der fernen Vergangenheit, von der nahen Vergangenheit und vor allem von der Zukunft durfte man nicht reden. Nur die Gegenwart existierte. Nur der Moment.
In dieser Zeit trafen sich Ilan und Ora mit dem Psychologen vom Sicherheitsministerium, der Avram seit seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft betreute. Zu ihrer großen Überraschung erfuhren sie, dass man bei Avram keine
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