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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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mit Mädchen nichts am Hut hatte. Mädchen umschwirrten und umsummten ihn, doch keine begeisterte ihn wirklich. Von Begegnung zu Begegnung, von Versuch zu Versuch wurde er trauriger und verlosch; vielleicht sollte ich sowieso besser schwul sein, sagte er eines Abends auf den großen, weichen Kissen in Jans Teestube in Ejn Karem zu Avram, und beide erstarrten, als er das, was in irgendeiner Form schon eine ganze Weile zwischen ihnen schwebte, beim Namen nannte. Keine Sorge, fügte Ilan betrübt hinzu, du bist nicht mein Typ. Avram trug Oras letzten Brief in der Tasche, den Ilan zu zeigen er nicht gewagt hatte. »Manchmal denke ich«, schrieb sie dort, »dass er sich jetzt in genau so einem Zustand befindet, wie ich vor etwa einem Jahr, bis ich dich (und ihn) im Krankenhaus getroffen habe, denn ich lebte wirklich in Wachträumen und hatte Angst, die Augen aufzumachen. Und jetzt, mit dem großen Schmerz, dass er mich ignoriert, spüre ich dennoch, dass ich ins Leben zurückkehre, und das verdanke ich wohl zum größten Teil dir. Ich verrate dir auch, dass ich ihm manchmalvon ganzem Herzen wünsche, er möge sich in irgendein (anderes) Mädchen verlieben, obwohl ich weiß, dass mir das sehr weh tun würde; von mir aus soll er sich in einen Jungen verlieben (lach nicht, manchmal denke ich wirklich, dass er vielleicht gerade das braucht und nur nicht den Mut hat, es zuzugeben, und manchmal denke ich, er ist in dich verliebt, ja, ja …), doch sogar das könnte ich bei ihm akzeptieren, Hauptsache, er tut sich etwas Gutes und wacht endlich aus seinem Schlaf auf, der mir höllische Angst macht, oj Avram, was täte ich ohne dich?
    Für immer dein, die Verkäuferin aus dem Laden an der Ecke …«

    Mit Schrecken fuhr sie hoch. Das Zimmer war dunkel (vielleicht war eine Schwester gekommen, hatte sie schlafen sehen und das Licht ausgeschaltet). Nur die Spiralen des Heizöfchens glühten rot. In ihrem Schoß lag der letzte Brief, den sie ihm vorgelesen hatte. Ilan hatte recht. Avrams Gesicht blieb ausdruckslos, während sie ihm seine Briefe vorlas. Es zerbrach nur ihr Herz. Sie legte das Blatt zurück in den Schuhkarton, reckte sich und hielt plötzlich inne: Er hatte die Augen geöffnet. Er war wach. Sie hatte den Eindruck, er schaue sie an.
    Avram?
    Er blinzelte.
    Soll ich Licht machen?
    Nein.
    Ihr Herz begann stark zu pochen: Soll ich dir das Bett richten? Sie sprang auf: Die Schwester rufen, dass sie die Infusion wechselt? Ist das Öfchen okay für dich?
    Ora?
    Was, was?
    Er atmete schwer. Was ist mit mir?
    Sie zwinkerte schnell: Du kommst wieder in Ordnung.
    Was ist passiert?
    Warte kurz, murmelte sie und verdrückte sich mit einer merkwürdigen Bewegung in Richtung Tür, ich bring dir …
    Ora, flüsterte er in so großer Not, dass sie von selbst stehenblieb und sich schnell die Augen trocknete.
    Avram, Avram, sagte sie staunend, genoss seinen Namen in ihrem Mund.
    Warum bin ich so …?
    Sie saß neben ihm, ihre Hand fuhr in der Luft über den eingegipsten Arm: Erinnerst du dich, dass Krieg war?
    Seine Brust fiel mit einem Schlag ein, er stieß einen tiefen, schwammigen Seufzer aus; bin ich verletzt?
    Ja, so kann man es nennen. Jetzt ruh dich ein bisschen aus und rede nicht.
    Eine Mine?
    Nein, es war keine …
    Ich bin bei denen gewesen, sagte er langsam. Danach fiel sein Kopf etwas zur Seite und er tauchte wieder ab in den Schlaf.
    Sie wollte losrennen, einen Arzt alarmieren, berichten, dass Avram gesprochen habe, oder Ilan anrufen und ihm die gute Nachricht überbringen, doch sie fürchtete sich, ihn auch nur einen Moment alleinzulassen. Etwas in seinem Gesicht riet ihr, nicht wegzugehen, sondern sich neben ihn zu setzen und auf ihn zu warten, ihn vor dem zu beschützen, was er begreifen wird, wenn er aufwacht.
    Seine Stimme knarrte brüchig: Ist noch jemand hier?
    Nur du. Und ich. Sie vermied ein Lächeln: ein Spezialzimmer für dich.
    Er verdaute die Information.
    Soll ich einen Arzt rufen? Vielleicht die Schwester? Du hast da eine Klingel …
    Ora.
    Ja.
    Wie lange bin ich …?
    Hier? Etwa zwei Wochen, ein bisschen länger.
    Er schloss die Augen, versuchte die rechte Hand zu bewegen und konnte es nicht. Er verdrehte den Hals und betrachtete das Gewirr von Drähten und Schläuchen, das aus seinem Körper hing.
    Du hattest ein paar … murmelte sie, kleine Operationen, das kommt alles in Ordnung, in ein paar Wochen springst du wieder …
    Ora, er stoppte sie schwerfällig und befreite sie beide von dem Druck, etwas

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