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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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vorspielen zu müssen.
    Willst du was trinken?
    Ich … Ich erinnere mich nicht, mir fehlen da ein paar Sachen. SeineStimme war furchterregend, erschöpft und mühsam, als quetsche sie sich aus einer gewundenen Tube heraus.
    Mit der Zeit wirst du dich erinnern. Die Ärzte sagen, es kommt alles zurück. Sie redete schnell, mit zu hoher, zu fröhlicher Stimme. Er fuhr sich langsam mit der Hand übers Gesicht, sein Finger zauderte bei der Berührung der abgebrochenen Zähne, das werden sie wieder richten, keine Sorge, sagte sie sofort und hörte sich dabei – wie eine Wohnungsmaklerin, die einen zögernden Kunden überredet, in einer Ruine wohnen zu bleiben. Und auch den Ellbogen richten sie dir wieder, fügte sie hinzu, und die Brüche hier, in den Fingern, und deine Fußknöchel.
    Sie erinnerte sich an seinen Sprung von der Kiefer und fragte sich, ob die Scheidung von seinem Körper ihm wohl etwas geholfen habe, als sie ihn dort folterten. Nicht zum ersten Mal sann sie darüber nach, dass sich bei ihm die Dinge zum Schluss oft in der Tiefe miteinander verbanden und zu einem Gesetz wurden, zu einer von Avrams Tiefenstrukturen, und sie erinnerte sich, ihm gesagt zu haben, er sei so eine Art Magnet für unglaubliche Dinge und wundersame Zufälle, aber vielleicht war ihm auch das jetzt verloren gegangen, und wer weiß, was er noch verloren hatte, Dinge, für die es vielleicht keine Worte gab, die vielleicht gar keinen Namen hatten und die erst langsam nach und nach klarwerden würden, ihr und auch ihm selbst.
    Das wird alles wieder, sagte sie, sie wollen erst die großen, dringenden Sachen richten, sie versteckte ein schiefes, entschuldigendes Lächeln, danach machen sie das Kosmetische und kümmern sich auch um deinen Mund. Das ist dann keine große Sache mehr. Kein Problem.
    Sie hatte den Eindruck, er höre sie überhaupt nicht. Was sie mit ihm machen würden, war ihm egal. Sie sprühte weiter ihr dummes Gerede, konnte sich nicht stoppen, weil sie daran dachte, was ihm vielleicht verlorengegangen war und was damit noch alles zusammenhing. Dinge, über die sie in den Wochen, die sie neben ihm gesessen hatte, nicht nachzudenken gewagt hatte, brachen plötzlich aus ihr heraus. Auch der Gedanke, dass Avram selbst vielleicht gar nichts verstand, dass das ganze Verstehen noch vor ihm lag.
    Welchen Monat haben wir?
    Jetzt ist Januar.
    Januar.
    Neunzehnhundertvierundsiebzig, fügte sie hinzu.
    Winter.
    Ja, Winter.
    Er tauchte ab, dachte nach oder war eingeschlafen, sie wusste es nicht. Aus einem der Zimmer, vielleicht dem Verbrennungszimmer, hörte man Schmerzenswimmern.
    Ora, wie bin ich zurückgekommen?
    Im Flugzeug, erinnerst du dich nicht?
    Ach?
    Ein Flugzeug von dort, sagte sie und dachte, das halt ich nicht aus, dieses Gespräch bringt mich um.
    Ora?
    Ja, was?
    Sie merkte, er riss die Augen weit auf. Ein kalter, sonderbarer Blitz zuckte dort.
    Gibt es, gibt es noch … Israel?
    Gibt es noch, was?
    Schon gut.
    Sie hatte ihn nicht verstanden. Danach spürte sie, wie ihr Mund trocken wurde: Gibt es noch, ja. Natürlich. Alles ist noch da. Dachtest du, dass nicht? Alles ist, wie es war, Avram, hast du gedacht, wir seien schon …
    Seine Brust hob und senkte sich schnell unter der Decke. Der Spiralofen, der schwächer geworden war, glühte wieder heller. Sie starrte auf seine Fingerspitzen, auf das blanke Fleisch an Stelle der Fingernägel, und dachte, nachdem er dort gewesen war, von wo er jetzt zurückkam, würden sie sich nie mehr wirklich begegnen; sie habe ihn für immer verloren.
    Er schlief wieder ein, warf den Kopf hin und her und schrie vor Schmerz. Es war kaum auszuhalten. Er kämpfte gegen jemand Unsichtbaren und begann dann leise zu weinen. Er flehte richtig. Plötzlich sprang sie auf, nahm einen Brief aus dem Karton und las laut und mit einer Hingabe, als ob sie betete: »Gestern war ich mit meiner Mutter ein Kleid für sie kaufen, ich berate sie immer in diesen Dingen undhabe bei Schwarz ein sehr schönes Kleid für dich gesehen: grün und ärmellos, ganz schmal, das sich eng um deine schlanke Gestalt legen wird, und vor allem – mit einem goldenen Reißverschluss von oben bis … unten!« Avram ächzte und verkrampfte sich im Bett, und Ora las ihm galoppierend und fast ohne Luft zu holen die dummen, herrlichen Zeilen vor, die aus einer so großen Entfernung abgeschickt worden waren, wie das Licht eines längst verloschenen Sterns. »Oben ist ein großer Ring, an dem man den Reißverschluss aufzieht, und noch

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