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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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schwört sich, ab jetzt wird sie ihm alles geben, was sie hat, wird ihre Heilkräfte einsetzen, ihre lange Erfahrung mit verschiedenen Therapieformen, entspannenden Massagen, warum hat sie ihm das die ganze Zeit vorenthalten?
    Sie schließt die Augen und presst die Kiefer über seinem Kopf zusammen, um das aufsteigende Weinen zu unterdrücken, und sie erinnert sich sehr genau an etwas, was Ilan ihr einmal sagte: Er umarme die Kinder immer ein bisschen weniger, als er eigentlich möchte, denn das sei immer ein bisschen mehr, als sie brauchen. Na ja, Ilan mit seiner Rechnerei. Sie küsst Adam wieder auf die Stirn, und er dreht den Kopf zu ihr und macht ein süßes Gesicht wie, »noch eine Extraportion«, und das macht sie überglücklich. »Special«, das war so ein ganz früher Brauch zwischen ihr und ihren Söhnen, schon seit Jahren wollte das keiner mehr von ihr, und siehe da, Adam rundet schon die Lippen, und sie lacht etwas verlegen, er ist immerhin schon fast dreizehn und hat einen dunklen Bartflaum, aber er braucht das anscheinend so sehr, dass ihn nichts verlegen macht, er küsst sie heiß auf die linke und die rechte Wange, auf die Nasenspitze und die Stirn, und Ora preist sich glücklich, mit Küssen würde sie ihm den Rückweg zeigen, und er lächelt mit gesenkten Lidern und macht ihr ein Zeichen von nochmal »Special«, und wieder küsst er ihre linke und rechte Wange, Nasenspitze und Stirn, und Ora sagt, jetzt bin ich aber dran, und Adam bettelt, ein einziges Mal noch, seine Hände halten ihr Gesicht fest, ihr Nacken wird steif, er besprenkelt ihre rechte Wange nun mit harten, spitzen Küsschen, dann die linke, die Nase, die Stirn, und sie kämpft, will ihm ihr Gesicht entziehen, doch er umschlingt sie mit harten Fingern, und sie schreit, genug, was ist denn mit dir los, und sieht, wie sich sein Gesicht verzerrt, erst unverständig, dann zutiefst verletzt, und sie stehen sich einen Moment lang zwischen Esstisch und Spüle gegenüber, Adam berührt blitzschnell dreimal mit den Fingerspitzen seine Mundwinkel und die Stelle zwischen den Augen, bläst sich dann schnell auf die Handflächen, erst auf die rechte, dann auf die linke, und seine Augen füllen sich mit einer trüben Flüssigkeit, dann entfernt er sich, geht, das Gesicht zu ihr gewandt, rückwärts aus der Küche, beobachtet sie misstrauisch, als würde sie sich gleich auf ihn stürzen, und sieerinnert sich: Genau so hatte Ofer sie angeschaut, als er entdeckte, dass sie Fleisch aß. Dasselbe Aufblitzen der Möglichkeit, sie könnte ihn zerreißen, das damals zwischen ihr und Ofer hin- und hergegangen war, zieht jetzt wie eine vorzeitliche Inschrift durch ihren Sinn, aber wie willst du Avram das erklären, so einen Moment zwischen Mutter und Sohn – und trotzdem erklärt sie es ihm, bis ins letzte Detail, damit er es weiß, damit er den Schmerz spürt, damit er es erlebt, damit er sich erinnert; und Adams Augen werden vor ihr immer größer und größer, füllen schon das ganze Gesicht aus, er geht weiter rückwärts, das Gesicht immer noch zu ihr gewandt, und bevor er durch die Küchentür hinausgeht, wirft er ihr einen letzten, entsetzlich nüchternen Blick zu, als wollte er ihr ohne Worte sagen, du hattest die Gelegenheit, mich zu retten, jetzt gehe ich weg.

    Zum Schluss, mit viel Druck und der wirksamsten aller Drohungen, ihn nicht mehr an den Computer zu lassen, überwinden sie Adams Widerstand und bringen ihn zu einem Psychologen. Der bestellt Ora und Ilan nach drei Sitzungen zu sich. Adam sei seiner Meinung nach ein intelligenter und durchaus fähiger Junge, und er habe einen starken Charakter. Einen sehr starken sogar, fügte er etwas ängstlich hinzu, er hat drei Stunden hier auf diesem Stuhl gesessen und geschwiegen.
    Geschwiegen? fragt Ora verblüfft, und was ist mit den Bewegungen?
    Keine einzige Bewegung. Er saß da wie ein Stein, hat mich angeschaut, kaum mal gezwinkert.
    Ora erinnert sich plötzlich an Ilan als Jungen, wie er die ganze Klasse boykottiert hat.
    Keine einfache Situation, sagt der Mann ratlos, drei Sitzungen lang, ich hab alles Mögliche versucht, aber er hat die ganze Zeit diesen Widerstand im Gesicht, und er ballt die Hand vor Ora und Ilan zur Faust: Verschlossen wie ein Bunker. Wie eine Sphinx.
    Was schlagen Sie dann vor, fragt Ilan feindselig.
    Natürlich kann man noch ein paar Sitzungen weitermachen, sagt der Mann, ohne ihnen in die Augen zu schauen, dazu bin ich durchaus bereit, aber ich muss Ihnen sagen, irgendwas

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