Eine Frau flieht vor einer Nachricht
ihm etwas Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.
Wie lange? Wie lange willst du denn noch warten?
Sagen wir, eine Woche?
Nein, so lang mach ich das nicht mehr mit. Einen Tag, vielleicht zwei Tage, länger nicht.
Wenn sie Adam in diesen Tagen anschaut, spürt sie etwas Lähmendes. Ihr Sohn wird für sie zu einem fortschreitenden Prozess. In den gemeinsamen Stunden zu Hause – wenn sie keine Ausrede findet hinauszugehen, ein bisschen Luft zu schnappen, die fließenden, harmonischen Bewegungen anderer wie einen stärkenden Trank zu sich zu nehmen und auch den bitteren Neid zu spüren, wenn sie die anderen Kinder seines Alters in den Ferien beobachtet –, in diesen Stunden hat sie den Eindruck, dass sein ganzes Wesen vor ihren Augen auseinanderbricht und die Teile immer weniger, immer lockerer miteinander verbunden sind. Für Augenblicke scheint es ihr so, dass seine Gesten – »Zeichen« sagten Ilan und sie mit gesenktem Blick – jetzt das Kind, das er früher war, irgendwie zusammenhalten müssen.
Und das passiert direkt vor deinen Augen, sagt sie zu Avram oder zu sich selbst, zu Hause passiert das, du könntest es anfassen, aber da gibt es nichts anzufassen. Die Hand schließt sich um ein Nichts.
Avram entfährt ein kaum hörbares Ah.
Du musst sagen, wenn du nicht mehr weiterhören willst, sagt sie, und er wirft ihr wieder diesen Wie-kommst-du-denn-darauf-Blick zu; und sie zuckt mit den Schultern und denkt sich, was weiß ich, über Jahre hab ich mich daran gewöhnt, dir gegenüber zu schweigen.
Sie errichten ihr kleines Lager in Ejn Jakim im Nachal Amud, neben einer Wasserpumpstation aus der Mandatszeit. Ora schlägt das Handtuch als Tischdecke auf, packt Lebensmittel aus, deckt den Tisch. Avram sammelt Holz und Steine für die Feuerstelle. Die Hündin springt über das schmale Flüsschen von einem Ufer zum andern, wird nass, schüttelt sich mit tausend Spritzern und wirft ihnen einen spielfreudigen Blick zu. Bevor sie sich zum Essen setzen, waschen sie Strümpfe, Unterwäsche und Hemden an der Quelle und hängen sie an die Büsche, damit sie trocknen, wenn am Morgen die Sonne aufgeht. Avramkramt in seinem Rucksack, holt ein weites weißes indisches Hemd und eine blendend weiße Pumphose heraus und zieht sich hinter einem Busch um.
Am nächsten Tag, als sie mit ihm allein zu Hause war, hat er ihr ganz aufgeregt und glücklich etwas erzählt, was ihm bei seinem geliebten Computerspiel passiert ist. Sie versucht sich auf das, was er sagt, zu konzentrieren, seine Freude zu teilen, aber es fällt ihr schwer: Jetzt markiert er auch seine Satzenden mit Atemstößen. Nach bestimmten Buchstaben – sie hat den Eindruck nach Zischlauten, aber vielleicht gibt es zu dieser Regel bereits Ausnahmen, die ihre eigenen Strafen verlangen – saugt er fest seine Wangen ein. Fragesätze ziehen eine neue Mundbewegung nach sich: Er schiebt die Lippen vor und zieht eine Schnute, die fast die Nase berührt.
Sie steht mit ihm in der Küche und kämpft für einen Moment gegen den gemeinen Drang, die Lippen genauso vorzuschieben, damit er wenigstens weiß, wie er aussieht. Damit er kapiert, wie schwer das zu ertragen ist. Aber sie kann sich zurückhalten, denn sie erinnert sich, wie ihre Mutter das früher mit ihr gemacht hat, in der Zeit nach Ada, als sie sich für kurze Zeit weitaus harmlosere Eigentümlichkeiten zugelegt hatte.
Doch als sie Adams bohrenden Blick sieht, drängt es sie plötzlich, ihn zu umarmen, schon seit Wochen hat sie ihn nicht mehr umarmt, er hat sich von niemandem anfassen lassen, doch auch sie hat es nicht mehr versucht, scheute sich, diesen entfremdeten Körper zu berühren, vielleicht fürchtete sie auch, nicht Wärme, sondern einer starren Kruste zu begegnen. Jetzt küsst sie seine Wangen und seine Stirn, wie dumm war sie gewesen, sich so zurückzuhalten und mit seinem Sichentziehen zu kollaborieren, vielleicht hat er nichts weiter als eine einfache, feste Umarmung gebraucht; und tatsächlich, auf einen Schlag fließt er aus seiner Gefangenschaft auf sie zu, schmiegt sich mit dem ganzen Körper an sie, legt seinen Kopf an ihre Brust, und sie reagiert mit Leib und Seele, spürt plötzlich wieder, wie stark sie ist, wie lebendig, wie ist es bloß dazu gekommen, dass sie bereit gewesen war, auf all dies zu verzichten, wie war sie überhaupt auf die Idee gekommen, ihr Kind einem Fremden zur Behandlung anzuvertrauen, bevor sie dasEinfachste und Allernatürlichste selbst ausprobiert hat; und sie
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