Eine Frau flieht vor einer Nachricht
erklär mir das, warum schaffen wir es nicht, etwas zu tun?
Was können wir denn tun?
Ihn zwingen, dass er in eine Therapie geht, ihn mit Gewalt zum Arzt schicken, zu einem Psychiater, was weiß ich. Ich habe das Gefühl, die Angst lähmt mich, und du hilfst mir nicht. Wo bist du überhaupt?
Mach ihm einen Termin bei noch jemand anderem, sagt er. Sie meint, in seinem Gesicht einen Schrecken zu erkennen. Etwas in seinem Gesicht, an seinem Kinn, erinnert sie plötzlich an die Tage nach Adams Geburt, direkt bevor er weglief.
Ich ruf gleich morgen früh an, verspricht sie und greift nach seinem Arm. Wir wissen noch nicht einmal, wie er sich dabei fühlt. Ich versuche mit ihm zu reden, aber er haut immer gleich ab. Stell dir mal vor, was für eine Angst das sein muss.
Auch für Ofer, sagt Ilan. Wir konzentrieren uns so sehr auf Adam, dass wir Ofer ganz vergessen.
Manchmal denke ich, wenn es eine normale Gefahr wäre, ein Brand oder sogar ein Terrorist, etwas, was wir kennen, etwas Logisches, meinst du, ich wäre nicht längst losgerannt, ihn zu retten? Würde ich nicht mein Leben für ihn riskieren? Aber hier …
Adam kommt aus seinem Zimmer und geht in die Küche. Aus dem Dunkel des Wohnzimmers verfolgen Ora und Ilan, wie er sich zum Kühlschrank bewegt. Als er es endlich schafft, die Wasserflasche an die Lippen zu setzen, räuspert sich Ilan, und Adam schaut sich überrascht zu ihnen um.
Hey, was-macht-ihr-denn-da? Seine eintönige Stimme, sein kantiges, künstliches Sprechen.
Wir ruhen uns ein bisschen aus, nur so, sagt Ilan, und was ist mit dir, Schatz?
Al-les-pri-ma, sagt er, dreht sich einmal um sich selbst und verzieht sich in sein Zimmer, er marschiert, hebt die Knie wie eine mechanische Nachahmung menschlicher Bewegung, die bei Adam in Stottern zerfällt.
Jetzt begreift sie. Mit einem Schlag bricht in ihr eine Schale auf, und sie weiß, dass Adam etwas völlig Neues entdeckt hat, ein neues Wissen, eine neue Kraft, und plötzlich ist es völlig klar, man muss ihn nuranschauen, dann sieht man sofort: Die Kraft der Negation, des Zerfallens, des Sichauflösens in Nichts, die ihn in sich hineinzieht und verschlingt, die entdeckt Adam gerade, und es scheint eine ganz gewaltige Kraft zu sein, nicht wahr? sagt sie zu Avram, ihre Stimme ist heiser, die Kraft des Nein, die Kraft des Nichtseins?
Avram rührt sich nicht, zerdrückt fast den leeren Kaffeebecher. In den ersten Monaten in der eigenen Wohnung – nach den Krankenhausaufenthalten und den Rehamaßnahmen – war er durch die Straßen Tel Avivs gegangen und hatte sich vorgestellt, er sei eine Biene in einem gewaltigen Schwarm. Das Wissen, dass er überhaupt nicht in der Lage war, die Bewegungen des ganzen Schwarms zu verstehen, tat ihm gut. Er hatte nur eine Aufgabe: zu existieren. Er musste sich nur bewegen, essen, kacken, schlafen. In anderen Stellen des Schwarms gab es vielleicht Emotionen oder Wissen oder ein richtiges Bewusstsein, vielleicht auch nicht. Das ging ihn nichts an, er war nur eine Zelle, völlig bedeutungslos, leicht zu ersetzen und gedankenlos zu zerstören.
Und manchmal, viel seltener, machte er auch genau das Umgekehrte: Er ging durch die Straßen, sprach absichtlich laut mit sich selbst, als wäre er allein auf der Welt, als ereignete sich die ganze Welt bloß in seinem Kopf, und diese Jugendlichen, die sich über ihn lustig machten, waren nur eine Ausgeburt seiner wilden Phantasie, wie auch die Alten, die mit dem Finger auf ihn zeigten, und das Auto, das mit quietschenden Bremsen einen Zentimeter vor ihm zum Halten kam.
Als Adam die Tür des Kinderzimmers hinter sich schließt, steht Ora vom Teppich auf und geht in die Küche. Sie macht den Kühlschrank mit Adams Bewegungen auf, hebt die Wasserflasche an den Mund, genau wie er es gemacht hat – Ellbogen, Handgelenk, Finger –, schließt ihre Lippen um die Familienflasche, trinkt und konzentriert sich dabei ganz auf Adam, und dann weiß sie für einen blitzartigen Moment (nicht länger, aber das reicht für ein Leben), wie es ist, wenn man nicht mehr die Linie sieht, sondern bloß noch die Punkte, die sie ausmachen; sie erkennt das Dunkel im Nichts des Lidschlags, die Abgründe zwischen einem Augenblick und dem nächsten.
Ja, stößt Avram leise hervor, als hätte er mehrere Minuten nicht geatmet.
Sie stellt die Flasche zurück in den Kühlschrank, rekonstruiert seine abgehackten Bewegungen, vergisst Ilan, der daliegt und sie aus dem Dunkeln beobachtet. Hier der Absturz
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