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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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gehen Arm in Arm am Strand entlang und bemerken ihn, bleiben stehen und schauen ihn an. Aus der Ferne, mit dem roten Sonnenuntergang im Rücken, sieht es aus, als vollführe er einen poetischen Elfentanz, eine Bewegung jagt die andere, jede Bewegung bringt neue Bewegungen hervor.
    Die denken bestimmt, er macht Tai-Chi, flüstert Ilan, und Ora flüstert, das mache sie allmählich verrückt. Er legt ihr die Hand auf den Arm. Warte, irgendwann hat er genug davon. Wie lang kann er damit noch weitermachen?
    Schau doch, es ist ihm völlig egal, dass sie ihn beobachten.
    Ja, das beunruhigt mich wirklich ein bisschen.
    Ein bisschen? Vor aller Augen? Adam?
    Sie denkt an Ilans Vater, der in seinen letzten Tagen im Krankenhaus jedes Schamgefühl verloren hatte und sich vor aller Augen auszog, um noch eine Stelle vorzuzeigen, auf die das Geschwür übergegriffen hatte.
    Siehst du, wie Ofer ihn die ganze Zeit anschaut?
    Wie muss das für ihn sein, dass sein Bruder so ist?
    Hat er was gesagt?
    Ofer? Kein Wort. Heute früh, als wir allein am Strand waren, hab ich versucht, mit ihm darüber zu reden.
    Klar, sagt sie und lächelt ungewollt, er würde nie mit uns gegen Adam kollaborieren.
    Adam küsst seine Fingerspitzen, fährt mit den Händen abwärts und berührt leicht und schwebend die Hüften, Schenkel, Knie und seine Knöchel im Wasser, richtet sich dann wieder auf, dreht sich um die eigene Achse und pustet dabei Atemstöße in alle vier Himmelsrichtungen.
    Was wird im September, wenn die Schule anfängt?
    Das sind noch fast zwei Monate. Bis dahin geht es vorbei.
    Und wenn nicht?
    Das geht bestimmt vorbei.
    Und wenn nicht?
    Unmöglich, dass es nicht vorbeigeht!
    Ora zieht die Knie an die Brust, hält den Atem an und schaut Avram lange an. Avram kann plötzlich nicht mehr sitzen. Er spürt Ameisen am ganzen Körper.

    Es sieht aus, als entferne sich Adam jeden Tag weiter von ihnen. Ihr kommen immer mehr schlechte Gedanken, die, so ihr Eindruck, schon lange auf diesen Augenblick gewartet haben. Am Tag schweben siewie Schatten in ihrem Kopf. Nachts, noch im Halbschlaf, verjagt sie sie, bis sie keine Kraft mehr hat, und dann fallen sie über sie her. Ilan weckt sie, streichelt ihr Gesicht, zieht sie an sich und fordert sie auf, zusammen mit ihm langsam zu atmen, bis sie sich beruhigt hat.
    Ich hatte einen Albtraum, erzählt sie, vergräbt das Gesicht an seiner Brust. Sie erlaubt ihm nicht, Licht zu machen, aus Angst, das Gesehene könne in ihren Augen zerreißen: Avram war auf der Straße an ihr vorbeigegangen, er war weiß gekleidet und sehr bleich, und als er nahe bei ihr war, murmelte er, sie solle sich heute die Zeitung kaufen. Sie versuchte, ihn aufzuhalten, ihn zu fragen, wie es ihm gehe und warum er sie noch immer ignoriere, doch er hatte angewidert seinen Arm aus ihrem Griff befreit und war verschwunden. Und in der Zeitung stand die Überschrift, Avram bereite sich auf einen Hungerstreik vor ihrem Haus vor, bis zum bitteren Ende, es sei denn, sie gebe einen ihrer Söhne heraus.
    Adam braucht neue Turnschuhe für das nächste Schuljahr, und sie schiebt den Einkauf hinaus. Er bittet sie immer wieder, mit ihm ins Einkaufszentrum zu gehen, ein Geschenk für Ofer auszusuchen, und sie – die noch vor zwei Wochen auf so einen Wunsch begeistert reagiert und gesagt hätte: »Und wenn wir mit den Einkäufen fertig sind, lad ich dich ins Café ein« – entzieht sich ihm mit fadenscheinigen Ausreden, bis er wohl selbst etwas versteht und sie nicht mehr fragt.
    Jeder Tag bringt neue Zeichen: Bevor er etwas sagt, stößt er die Ellbogen nach hinten, ballt und öffnet die Fäuste mehrmals, bevor er »ich« sagt. Das Waschen und die Atemstöße werden immer häufiger. Im Laufe einer Mahlzeit kann er fünf- und auch zehnmal aufstehen, um sich die Hände zu waschen und den Mund auszuspülen.
    Nach einem Schabbat zu Hause, an dem Ilan Adam einen ganzen Tag lang gesehen hat, und nach drei gemeinsamen Mahlzeiten sagt er zu Ora, komm, wir müssen etwas unternehmen.
    Wie erwartet, will Adam nichts davon hören. Er wirft sich auf den Boden und schreit, er sei nicht verrückt, sie sollten ihn in Ruhe lassen. Seit er ein kleines Kind war, hat er sich nicht mehr so verhalten, und der Anblick entsetzt sie. Wenn sie versuchen, ihm gut zuzureden, rennt er weg und schließt sich in seinem Zimmer ein und hämmert lange wie wild gegen die Tür.
    Lass uns noch ein bisschen warten, sagt Ilan, als sie im Bett liegen und sich den Kopf zerbrechen, wir geben

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