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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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um sie herum spielen wieder verrückt. Ora fragt sich, ob sie dazu verurteilt ist, bis ans Ende ihrer Tage Ilan und seine Wechselhaftigkeit verstehen zu wollen, oder ob sie einmal ohne seine ständigen Echos für sich selbst leben können wird – eine Vorstellung, die ihr nicht unbedingt Erleichterung verschafft, sie auch überhaupt nicht erfreut, und plötzlich beißt die Sehnsucht kräftig zu.
    Mit Ilan über die Jungs zu reden, denkt sie, war ein so schöner Teil ihres Familiewerdens gewesen, das Reden selbst, und wie oft haben sie über die Jungs geredet. Dabei hat sie nicht selten gedacht, dass sie es Avram zu verdanken hatten, so miteinander sprechen zu können, Ilan und sie; hätten sie ihn nicht getroffen, hätte er sie nicht als Jugendliche geprägt, wie viel verschwiegener und scheuer wären sie geblieben. Also danke, sagt sie ihm im Stillen, danke auch dafür.
    Am liebsten sprachen sie über die Kinder auf ihren abendlichen Spaziergängen, nachdem das Unternehmen des Zubettbringens beendet war. Ohne Avram zu fragen, ob er das will, nimmt sie ihn mit ins unaufgeräumte Kinderzimmer zu den sorgsamen Vorbereitungen auf jene schwierige Ausfahrt in die Nacht mit ihren Schatten, ihrer Fremdheit und dem Exil, das sie über jedes Kind in seinem eigenen Bett verhängte. Nach einer letzten Umarmung, nach nochmal Wassertrinken, nochmal Pipimachen, noch ein kleines Licht, noch ein Kuss für das Bärchen oder den Affen, nachdem Adam und Ofer zu Ende geredet hatten und endlich eingeschlafen waren …
    Am Anfang, als sie noch in Zur Hadassa wohnten, waren sie den Weg nach Ejn Joel gegangen, an den Pfirsich- und Pflaumenhainen von Mevo Bejtar vorbei, zwischen den Überresten der Quitten-, Walnuss-, Zitronen-, Mandel- und Olivenbäume arabischer Dörfer, die hier einmal waren und nicht mehr sind – immer wieder hatte sie sich gesagt, sie müsse doch wenigstens die Namen der Dörfer herausbekommen–, manchmal gingen sie auch zum Nachal HaMaajanot, einem Wadi, in dem das ganze Jahr über Wasser floss und in dem die Einwohner von Chussan und Batir kleine Gärten mit Auberginen, Paprika, Bohnen und Zucchini angelegt hatten. Erst als die erste Intifada begann und sie Angst hatten, dort rumzulaufen, wählten sie den Weg ins nahe Wäldchen, im Herbst gibt es da ganze Kissen von Herbstzeitlosen und Zyklamen, sagt sie, vielleicht geh ich mit dir mal da hin, erinnere mich daran – und als sie nach Ejn Karem umzogen, noch bevor sie herausfanden, wo man Brot und Milch oder Gemüse kaufen konnte, hatten sie sich einen Weg gesucht, der ihnen gefallen würde, nicht zu kapriziös, aber auch nicht zu langweilig, nicht ganz abseits, aber auch nicht zu belebt, ein Weg, auf dem zwei zusammen gehen und sich leise unterhalten, manchmal auch Händchenhalten oder sich küssen konnten. Und im Laufe der Jahre hatten sie weitere Wege entdeckt, verborgenere, in die Wadis, zwischen Olivenhainen, zwischen Gräbern arabischer Scheichs und Häuserruinen, in jeder freien Stunde gingen sie dorthin, manchmal auch morgens, das aber erst, als die Kinder schon groß und selbständig waren und Ofer schon leckere Omelettes und Pausenbrote für sich und für Adam zubereiten konnte. Auch wenn er den größten Stress bei der Arbeit hatte, war Ilan nicht bereit gewesen, auf unsere tägliche Runde zu verzichten, sagt sie.
    Avram hört zu und sieht Ora und Ilan – ein Paar. Ilan vielleicht bereits an den Schläfen ergraut, Ora ist schon fast ganz silbern, sie trägt eine Brille, Ilan wahrscheinlich auch. Sie gehen auf ihrem verborgenen Weg im gleichen Schritt eng nebeneinander, ab und zu dreht sie den Kopf zu ihm, manchmal suchen ihre Hände einander und verschränken sich. Sie unterhalten sich leise. Ora lacht. Ilan lächelt sein Drei-Falten-Lächeln. Plötzlich sehnt sich Avram nach Ilan. Fassungslos rechnet er nach, dass er ihn seit einundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen hat.
    Bei diesen Gesprächen, erklärt sie Avram, weiß ich fast immer schon vorher, was er sagen wird. An der Art, wie er vor dem Satz atmet, erkenne ich die Richtung und oft auch die Worte. Und ich freu mich so, dass wir einer den anderen voraussagen können.
    Aber Ilan ist das wohl auf die Nerven gegangen – denkt sie und sagt es auch Avram –, ihn hat es irgendwann gelangweilt, dass er schon anmeinem Atemholen ahnte, was ich sagen würde, und auch an meinem Lachen vor einem Witz. Vielleicht braucht er einfach etwas Urlaub von mir, so hat er es zumindest gesagt, ich bin für ihn offenbar

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