Eine Frau flieht vor einer Nachricht
schwere Arbeit, sie zuckt mit den Schultern, aber ich war gerade bei etwas anderem, was ich dir erzählen wollte, was war das noch? Ich bin so zerstreut. Und ich rede auch die ganze Zeit schlecht über ihn, denkt sie und sagt es einen Moment später, das ist wirklich nicht in Ordnung und auch nicht richtig, es entspricht nicht der Wahrheit, das hat er nicht verdient.
Sie und Ilan auf ihrer abendlichen Runde, Arm in Arm, zerkrümeln den vergangenen Tag, vergleichen Eindrücke, fügen immer mehr Details dem großen Bild ihres Lebens hinzu, lachen über dieses und jenes, umarmen und lösen sich voneinander, diskutieren, beraten sich in beruflichen Dingen. Ilan habe zwar nicht viel von ihren Angelegenheiten verstanden, sagt sie zu Avram, das habe sie auch nicht von ihm erwartet, wie viel Anteilnahme konnte die Massage eines verstauchten Knöchels oder das Einrenken einer Schulter bei einem Nichtbeteiligten schon hervorrufen? Dennoch tat es ihr leid, dass ihn die kleinen großen Dramen, von denen sie erfuhr, wenn sie einen Hexenschuss oder einen irritierten Gesichtsnerv behandelte, nicht ebenso bewegten wie sie. Sie dagegen war über die Jahre zu seiner engsten Beraterin geworden, zu seiner geheimen Geschworenenkammer, zur letzten Instanz seiner Entscheidungen. Bei ihm im Büro lachte man offen darüber: »Ora hat es noch nicht abgesegnet«, »Ilan wartet auf den Bescheid des Obersten Gerichtshofs«, und wirklich, erzählt sie – sie wird vor Bescheidenheit rot, ein Glück, dass es dunkel ist –, habe er ihr vollkommen vertraut und sich überraschenderweise ganz auf ihre Intuition verlassen, auf ihr weises Herz – das waren seine Worte, entschuldigt sie sich –, obwohl diese verschlungenen juristischen Schachzüge in Fragen des Urheberrechts, die Vertraulichkeitsabkommen und Konkurrenzklauseln sie nicht wirklich interessierten, genauso wenig wie das Markenzeichen einer Firma für Bewässerungsanlagen oder eines Arzneimittelkonzerns für Generika, und die Frage, wann genau bei einer Idee dieser schwer zu fassende, abstrakte und geheimnisvolle »geniale Funke«, wie Ilan ihn nannte, flog. Tatsächlich hatten die komplizierten Prozesse bei der Anmeldung eines Patents in Israel, in denUSA oder Europa sie nie interessiert, auch nicht Ilans Überzeugungstricks, um Geldgeber dazu zu bewegen, etwa in einen jungen Arzt aus Karmiel zu investieren, der eine endoskopische Kamera entwickelt hatte, die sich nach Gebrauch im Blutkreislauf auflöst und selbst abbaut, oder in einen Biochemiker aus Kirijat Gat, der eine kostengünstige Art entwickelt hatte, aus altem Frittieröl Diesel herzustellen. Aber Ilan, wie er eben so ist, lacht sie, der Mann, ich sag’s dir, hätte Schachmeister oder Politiker oder Berater der Mafia werden sollen, diese Seite an ihm kennst du gar nicht, das hat sich erst nach dir entwickelt.
Auf ihrem Spaziergang abends verteilten Ilan und Ora problemlos die Aufgaben für den nächsten Tag. Wir haben nie darüber gestritten, wer was macht, verstehst du? Wir waren ein prima Team. Sie besprachen kurz die anstehenden Dinge, Rechnungen, die zu bezahlen waren, Reparaturen, den Fahrdienst für die Kinder, ihre Finanzen und aktuelle Fragen der familiären Innen- und Außenpolitik, die Suche nach einem passenden Altersheim für ihre Mutter und was man mit ihrer faulen, verlogenen Putzfrau machen sollte, die zu entlassen über Jahre keiner von ihnen gewagt hatte, selbst Ilan hatte sich davor gefürchtet, und erst die Trennung hatte ihrer Herrschaft über das Leben der beiden ein Ende gemacht.
Doch am häufigsten kreisten ihre Gespräche um die Kinder; sie betrachteten dankbar diese beiden erfreulichen Menschen, die in ihrer Mitte heranwuchsen, und zitierten, was Adam gesagt, was Ofer gemacht hatte, verglichen sie, wie sehr sie sich in den letzten Jahren oder sogar in den letzten Wochen, in so kurzer Zeit verändert hatten, mein Gott, lass sie nicht so schnell groß werden! Sie schwelgten in der Erinnerung an kleine Szenen, winzige Momente, die nur zwischen ihnen beiden so groß und leuchtend wurden, weil nur ihnen diese beiden Jungs so lieb und teuer waren .
Auch Ofer? fragt Avram beinahe stimmlos, war auch er … Ich meine für Ilan … War auch er für ihn …
Sie lächelt ihn an, ein schattenloses Licht in ihren Augen. Avram sieht es sogar in der Dunkelheit und nimmt einen kräftigen Schluck von dem heißen Tee, verbrennt sich Zunge und Gaumen und lässt den Schmerz genüsslich einen Moment in seinem Mund
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