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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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tot, und seine Leiche liegt nicht weit von hier. Doch wie oft er die Worte auch wiederholte, er begriff ihre Bedeutung nicht, noch nichtmal einen einfachen Schmerz spürte er, und er wunderte sich auch nicht darüber, dass er keinen Schmerz empfand.
    Sie schweigen, beiden schlägt das Herz plötzlich schneller, schlägt im Takt der Fragen, die keiner stellen wird. Was hast du dir gedacht, Ora, was hast du dir gedacht, als wir dich angerufen haben und dir gesagt haben, nimm eine Mütze und zwei Zettelchen? Hattest du wirklich keinen blassen Schimmer, was du da auslost? Und was hast du heimlich gehofft? Welchen Namen hofftest du zu ziehen? Hättest du damals gewusst, was passieren wird – nein, stell diese Frage nicht. Trotzdem, du musst sie stellen, du musst es ein für alle Mal wissen. Wenn du gewusst hättest, was passiert, welchen Namen hättest du ziehen wollen?
    Um vier Uhr in der Früh kam jemand, um ihn abzulösen. Ilan rannte in den Bunker. Eine Granate flog genau über seinen Kopf, und er zuckte zurück, drückte sich in eine der Kaninchenhöhlen in der Seitenwand des Schützengrabens. »Wo gibt’s hier ein Klo?«, schrie er einem bärtigen Soldaten zu, der sich ihm gegenüber duckte und am ganzen Leib zitterte. »Wo du hinscheißt, ist das Klo«, ächzte der, und Ilan, der spürte, dass sich seine Hosen gleich füllen würden, riss sie herunter und vergaß für einen langen Moment alles, den Krieg, dieBombardierung und Avram, den er verloren hatte, und konzentrierte sich ganz auf seinen sich leerenden Darm.
    Danach, als er den Befehlsbunker erreichte, entsetzte ihn die Stille. Jemand gab ihm ein Zeichen, auf den Beobachtungsturm zu klettern und nach Westen zu schauen, da sah er eine Art riesigen gelblich-weißen Teppich, der sich mit ziemlicher Geschwindigkeit wellenförmig auf den Posten zubewegte, als schwebe er über der Wüste.
    Die sind von denen, sagte ein Soldat neben ihm kurz, das sind vielleicht zwanzig Panzer. Alle Rohre auf uns gerichtet.
    Der Beschuss begann. Die Panzer schossen, auch eine Batterie von Raketenwerfern, die auf der Spitze eines entfernten Hügels auftauchte, schoss, und ein ägyptischer Suchoj- Jagdbomber warf seine Bomben ab. Die Luft und die Erde bebten. Alles, was Ilan sehen konnte, wackelte. Menschen, Betonwände, Tische, Funkgeräte, Waffen. Jeder Gegenstand benahm sich anders als sonst, summte, wie wahnsinnig. Abermals meldete sich sein Durchfall. Er drehte sich um und rannte zu seiner Kaninchenhöhle.
    Die Welt ist gestorben, murmelte ein rothaariger Knabe in langen Militärunterhosen, der an ihm vorbeirannte, und Ilan dachte, vielleicht ist das der Zeitpunkt, Briefe zu schreiben – an seine Eltern, an Ora und an Avram, und dann begriff er, dass er Avram nie mehr schreiben würde. Keine Zettelchen mehr im Unterricht, keine Limericks mehr, keine Ideen für Tonbandaufnahmen oder Zitate von Kishon, keinen gelehrten talmudähnlichen Kommentar zu Fanny Hill . Keine gereimten Lieder über die Vorzüge ihrer diversen Mitschülerinnen, keine Dialoge in Zeichensprache unter den Augen der Lehrer und keine süßen Träume mehr über den ultimativen israelischen Film, den er nach Avrams Drehbuch machen würde. Keine tiefsinnigen, brünstigen Briefe mehr, von einem Camp zum andern mit bereits vorsorglich markierten Tintenkreisen für die Speicheltropfen des Zensors. Keine verschlüsselten Botschaften mit dem Dienstfernschreiber mehr, deren Code keiner knacken konnte, da er allein auf ihrer beider persönlichen Geheimnissen beruhte. Vorbei die gemeinsamen Entdeckungsreisen zu neuen Kontinenten wie Bakunin und Kropotkin, Kerouac und Burroughs, und auch Tom Jones und Die Abenteuer des Joseph Andrews von Fielding und Das Buch der Witze und Rätsel von Drojanow. Vorbei die Witzeund Geistesblitze, der Scharfsinn, die herrlichen Schweinereien, das tiefe gegenseitige Erkennen zweier verstoßener Kinder, zweier Spione in Feindesland, vorbei all das, was sie sich zwischen zwei hysterischen, in Tränen endenden Lachanfällen gesagt hatten, das wortlose Verstehen.
    Es war aus, er hatte niemanden mehr, mit dem er über Jenseits von Gut und Böse reden konnte und über Also sprach Zarathustra, dessen Thesen sie einander laut und dramatisch vorgelesen hatten. Mit wem würde er noch beim nächtlichen Ausbüchsen durch ein Loch im Zaun der Ausbildungsbasis des Geheimdienstes die versteckten Akkordfolgen des Blues in den Songs der Beatles diskutieren können, wer würde mit ihm die bis zum Bauchschmerz

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