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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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ermüdenden Diskussionen von Naphta und Settembrini aus dem Zauberberg als Hörspiel inszenieren und auf dem kleinen Akai-Tonband aufnehmen? Und all die Zitate aus den von ihnen verehrten Schriften der Beatniks David Avidan und Jona Wallach, aus Catch 22 , aus Unter dem Milchwald von Dylan Thomas, einem Lobgesang auf alles Menschliche, aus dem er seitenweise auswendig rezitieren konnte. Wem auf der Welt würde es noch gelingen, ihn in die Zeitungsredaktion von Jedi’ot Acharonot in Tel Aviv zu einem Treffen mit dem Chefredakteur mitzuschleppen, der ganz überrascht war, dass es sich bei den angekündigten Gästen um zwei Jugendliche handelte und dass die Idee, die sie ihm in ihrem Brief so geheimnisvoll angedeutet hatten – »die wir Ihnen, wenn Sie erlauben, nur im vertraulich Gespräch unter vier Augen unterbreiten können« –, lautete: einmal im Monat die gesamte Zeitung ausschließlich von Lyrikern schreiben zu lassen (»Alle Rubriken«, hatte Avram dem verblüfften Redakteur mit vollem Ernst erklärt, »von den Schlagzeilen der Titelseite über Sport bis zu den Anzeigen und sogar die Wettervorhersage«). Nur mit Avram konnte er, parallel zu ihrem normalen Leben, in den rauchigen Gefilden der Monatszeitschrift Down Beat , die sie jeden Monat aus der Bibliothek der Musikakademie klauten, ein geheimes, verborgenes Leben führen und allabendliche Unternehmungen genauestens planen, Besuche in der Carnegie Hall, Preservation Hall und in den Jazzhöhlen von New Orleans, oder über neue Jazzplatten und Jazzbücher phantasieren. Die waren in Israel zwar nicht zu bekommen, doch es war reizvoll, sich in endlosen Annahmen zu ergehen, was sich hinter den Worten verbarg – Music is my mistress von DukeEllington brachte sie über Monate allein aufgrund der Besprechungen, der Anzeigen und des Titels fast um den Verstand. Und wer würde mit ihm noch bei Ginzburg in der Allenby Straße nach gebrauchten Instrumenten suchen, würde ihm von dem Geld, das er nicht hat, Platten von Stan Getz und Coltrane kaufen und ihm die Ohren öffnen für den politischen Schrei im Jazz und im Blues, den er, bis Avram kam, nie bemerkt und noch nicht einmal dort vermutet hatte. Wer würde ihn noch lachend »Du Nachfahre des schwachen Samens« nennen, und wer würde ihn nach einem glanzvollen Zug beim Backgammon mit »Gut gebrüllt, Löwe« loben?
    Es würde keinen wilden Wettbewerb mehr geben, wer die meisten Seiten des Arabisch-Hebräisch Lexikons von Aylon Schina’ar auswendig konnte, und deshalb würde er auch auf niemandes überraschende Frage »Was bedeutet tadahalasa« wie aus der Pistole geschossen antworten: »das Wandeln in den Gängen des Parlaments etc.« Und keiner würde ihm mehr in einem vollen Fahrstuhl naheda zuflüstern, was da heißt: »junges Mädchen mit runden vollen Brüsten«. Und auch ihr hebraisiertes Arabisch und ihr arabisiertes Hebräisch würden von der Welt verschwinden.

    Er ging in dem Moment zurück in den Befehlsbunker, als israelische Panzer die ägyptischen überraschend umzingelten und zwei von ihnen in Brand schossen. Überall im Posten jubelten die Soldaten, umarmten sich, winkten den israelischen Panzern begeistert zu, begannen sich auf ihre Evakuierung vorzubereiten. Die israelischen Panzer jagten den ägyptischen, die nicht getroffen waren, nach und verschwanden wieder hinter den Dünen. Eine giftige Stille breitete sich aus. Verwirrt standen die Leute da, wussten nicht, was mit den Händen machen, die eben noch gewunken hatten.
    Ein paar Minuten später kletterte aus einem der getroffenen Panzer ein ägyptischer Soldat. Flammen schlugen aus seinen Schultern. Er sprang vom Panzer, rannte mit erhobenen Händen hin und her, bis er schließlich kopfüber hinfiel, noch etwas zuckte, sich dann nicht mehr bewegte und sich merkwürdig ergeben von den Flammen verbrennen ließ. Direkt danach tauchten vier ägyptische Schützenpanzer auf. Soldaten in gefleckter Uniform stiegen aus, schauten in Richtung des Postensund berieten sich. Der Kommandeur des Postens befahl »Feuer frei«, und jeder, der eine Waffe in der Hand hielt, begann zu schießen. Auch Ilan. Sein erster Schuss, der einzige in diesem Krieg, zerknallte auf seinem Trommelfell und ließ als Narbe einen Dauerton zurück. Die ägyptischen Soldaten sprangen wieder in ihre Fahrzeuge und zogen sich zurück. Ilan holte eine Wasserflasche aus einem verwaisten Gürtel und trank sie fast leer. Seine Knie zitterten. Der Gedanke, dass er einen Menschen hätte

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