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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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der Gerechten der Völker . Er hatte ihr mit ernstem Gesicht zugehört, den Mund etwas offen, die Lippen in einer unmerklichen Bewegung, als übe er seine Worte ein, und nachdem sie sich verabschiedet hatten und sie langsam die Treppen hochgegangen war, hatte sie den Eindruck gehabt, trotz allem, was geschehen war, und trotz seines merkwürdigen Schweigens auf dem Rückweg habe sich doch gerade an diesem Tag ihre Freundschaft vertieft, so als seien sie beide von einem gewaltigen, wirklicheren Feuer zusammengeschmiedet worden, von der Feuerprobe der Wirklichkeit.

Aber als sie ihn jetzt anrief, noch bevor sie ihm erklären konnte, es handle sich um eine sehr dringende Fahrt nach Tel Aviv, antwortete Sami mit einer Kälte, die sie niederschmetterte, er fühle sich nicht gut; es sei ihm in den Rücken gefahren, nachdem er von der Fahrt zurückgekommen sei, er müsse sich ein paar Stunden hinlegen. Ora spürte die Lüge in seiner Stimme, und ihr wurde flau. Etwas, was sie seit dem Abschied von ihm mit aller Kraft von sich weggeschoben hatte und was sie seitdem mit Spott und Zweifeln peinigte, nahm jetzt vor ihr Gestalt an und schleuderte ihr ihre eigene Naivität und Dummheit ins Gesicht. Sie wollte sagen, sie könne das verstehen, sie werde einen anderen Fahrer anrufen, aber sie hörte sich, wie sie versuchte, ihn zu überreden, er möge trotzdem kommen. Er sagte, Frau Ora, ich muss mich ausruhen, ich hatte einen schweren Tag; zwei große Fahrten an einem Tag, das kann ich nicht. Von dem »Frau Ora« fühlte sie sich zutiefst beleidigt und hängte fast ein, tat es aber nicht, denn sie spürte, sie würde keine Ruhe haben, bis sie mit ihm wirklich geklärt hätte, was heute passiert war.
    Geduldig und ohne die Fassung zu verlieren sagte sie, auch sie habe, wie er ja wohl wisse, einen schweren Tag hinter sich, doch Sami unterbrach sie und schlug vor, ihr einen seiner Fahrer zu schicken. Da fing sie sich endlich wieder, erinnerte sich, dass auch sie so etwas wie Selbstachtung besaß, wenn auch nicht sehr viel, aber ein bisschen war doch noch übrig, und sie sagte mit unnötigem Hochmut, danke, ich komme schon zurecht. Er erschrak wohl über die Kälte in ihrer Stimme und bat sie inständig, es nicht persönlich zu nehmen. Einen Moment schwieg er zögernd, und gerade angesichts seiner unterwürfigen Stimme knickte sie wieder ein und sagte, aber was soll ich machen, Sami, ich nehme dich immer persönlich. Er seufzte. Sie schwieg und wartete. Sie hörte jemanden, einen Mann, der in Samis Haus laut und sehr aufgeregt redete. Sami wandte sich an ihn, hieß ihn müde schweigen, und geradewegen der Müdigkeit in seiner Stimme, und vielleicht wegen des Anflugs von Verzweiflung, der diese Müdigkeit begleitete, war es ihr plötzlich sehr wichtig, ihn wiederzusehen, und zwar sofort: Sie hatte das Gefühl, wenn sie nur die Chance bekäme, noch ein bisschen mit ihm zusammen zu sein, und sei es nur ein paar Minuten, dann könnte sie wirklich alles heil machen, was durcheinandergekommen und schiefgegangen war. Anscheinend war die Versöhnung keine richtige Versöhnung gewesen, dachte sie, aber jetzt werde ich mit ihm über ganz andere Sachen reden, Dinge, über die wir nie geredet haben, über die Wurzeln meines Fehlers heute, über die Ängste und den Hass, den wir beide mit der Muttermilch eingesogen haben. Vielleicht haben wir ja noch gar nicht angefangen, miteinander zu reden, kam es ihr plötzlich in den Sinn, sonderbar, vielleicht haben wir die vielen Stunden, die wir zusammen gefahren sind und so viel erzählt, diskutiert, uns ein bisschen provoziert und gelacht haben, vielleicht haben wir da doch noch nicht wirklich angefangen, miteinander zu reden.
    Das Geschrei in Samis Haus wurde lauter. Drei oder vier Leute diskutierten heftig miteinander, auch eine Frau schrie, vielleicht In’am, Samis Frau, doch diese Stimme kannte Ora nicht, und sie fragte sich auch, ob das irgendwie mit ihr zu tun habe, mit dem, was ihr an diesem Tag passiert war, ob möglicherweise – ein verrückter Gedanke, aber an so einem Tag und in diesem Land war so ziemlich alles möglich – einer aus dem Dorf Sami denunziert hatte, er habe einen Soldaten chauffiert.
    Einen Moment bitte, sagte Sami zu ihr und wandte sich in schnellem, spitzem Arabisch an einen jungen Mann. Er schrie mit einer Gewalt, die Ora nie in ihm vermutet hätte, doch der junge Mann regte sich nicht auf und antwortete in anklagendem, verächtlichem Ton, er spuckte ihm bloß ein paar

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