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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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auch über die etwas zerbrochene, und auf dem Weg würden sie sich noch einmal vergegenwärtigen, was sie ihr zu überbringen hatten. Wie viele Nächte hatte sie schon darauf gewartet, seit Adam eingezogen worden war, die ganze Zeit, während er seinen Dienst in den besetzten Gebieten tat, und danach die drei Jahre von Ofers Wehrdienst, wie oft war sie beim Klingeln an der Haustür aufgestanden und hatte sich gesagt, das war’s, jetzt ist alles vorbei, aber nun wird ihnen diese Tür verschlossen bleiben, auch morgen, übermorgen, auch nächste, auch übernächste Woche, diese Nachricht wird nicht überbracht werden, denn zum Überbringen einer Botschaft braucht es immer zwei, dachte Ora, einen, der sie überbringt, und einen, der sie entgegennimmt, und deshalb kann sie nicht überbracht werden. Dieser Gedankengang zeichnete sich in ihr immer leuchtender ab, blitzte nadelspitz in zorniger Fröhlichkeit auf, während dasHaus schon abgeschlossen hinter ihr liegt und das Telefon drinnen pausenlos klingelt und sie selbst auf dem Weg draußen auf und ab geht und Sami erwartet.
    Je länger sie darüber nachdenkt, umso ergriffener ist sie von dieser sonderbaren Idee, die wie eine aufglühende Inspiration aus heiterem Himmel über sie gekommen war – passt so gar nicht zu mir, kichert sie verwundert, das wäre viel eher ein Gedanke von Avram, sogar von Ilan, aber doch nicht von mir –, und dann hegt sie keinen Zweifel mehr daran, das, was sie tun wird, ist richtig, dies ist der richtige Protest, und sie lässt sich das Wort genüsslich auf der Zunge zergehen, beißt ein bisschen hinein: Protest, mein Protest, es ist ein angenehmes Gefühl, diese zappelnde kleine Beute zwischen den Zähnen zu halten, ihren Protest und diese neue Muskulosität in ihrem müden Körper. Der lächerliche, armselige Protest, das weiß sie, wird in zwei, drei Stunden verflogen sein und bloß einen schalen Geschmack zurücklassen, aber was kann sie denn sonst tun? Dasitzen und reglos abwarten, dass sie kommen und ihre Nachricht auf sie abschießen? Ich bleibe nicht hier, wiederholt sie, versucht sich selbst Mut zuzusprechen, ich nehme das von ihnen nicht entgegen, und sie hört überrascht ihr eigenes röchelndes Lachen, das ist es, es ist entschieden, sie weigert sich, sie wird die erste Annahmeverweigerin sein. Sie streckt sich, dehnt die Glieder, die Lungen füllen sich mit der erfrischend scharfen Abendluft. Einen Aufschub wird sie erreichen, für sich und vor allem für Ofer. Auf mehr als das kann sie jetzt nicht hoffen, eine kleine Verzögerung aufgrund ihres Protests. Warme Wellen durchfluten ihren Kopf, und sie läuft schnell auf und ab, immer um die Rucksäcke herum. Zweifellos muss es in ihrem Plan einen grundlegenden Fehler geben, einen himmelschreienden Denkfehler, und der wird sich auch gleich erweisen und alles widerlegen, er wird sich über sie lustig machen und sie mit ihren beiden Rucksäcken wieder nach Hause schicken, doch bis dahin ist sie plötzlich frei von sich selbst, frei von der großen Ängstlichkeit, die ihr im letzten Jahr anhaftete, und wieder sagt sie sich halblaut vor, was sie machen will, wiederholt es und kommt zu der erstaunlichen Einsicht, dass sie allem Anschein nach sogar recht hat oder zumindest nicht völlig falschliegt, denn wenn sie von zu Hause flieht, dann wird dieser Deal wenigstens für eine gewisse Zeit aufgeschoben,dieser Deal, den Armee, Regierung und Staat ihr womöglich schon sehr bald aufzwingen wollen, vielleicht schon diese Nacht, dieser einseitige Deal, der festlegt, dass sie, Ora, bereit ist, von ihnen die Nachricht vom Tod ihres Sohnes entgegenzunehmen, und ihnen damit hilft, die komplizierte und bedrückende Tatsache seines Todes zu einem geordneten, von beiden Seiten akzeptierten Abschluss zu bringen; in gewisser Weise gäbe sie ihnen damit die tiefe und endgültige Bestätigung für diesen Tod und würde so auch ein bisschen zur Komplizin bei diesem Verbrechen.
    Bei diesen Worten geht ihr plötzlich die Kraft aus, sie sinkt auf den Boden, setzt sich auf den Gehweg zwischen die beiden Rucksäcke, die jetzt wie ein Elternpaar nahe an sie ranrücken und sie beschützen. Zwei aufgeblähte Rucksäcke, die sie umarmt, zu sich heranzieht und denen sie im Stillen erklärt, dass sie im Moment vielleicht etwas verrückt ist, aber im Ringkampf mit den Überbringern der Nachricht müsse sie bis zum Ende gehen, durchhalten, um Ofers willen, damit sie nachher nicht das Gefühl haben wird, sie hätte

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