Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Worte hin, und für Ora klang es, als spritze er Gift. Sie hörte das Weinen eines kleinen Kindes, viel jünger als das kleinste von seinen, danach ein Krachen, vielleicht hatte jemand gegen den Tisch getreten oder sogar einen Stuhl geworfen. Mit jedem Moment wurde sie sicherer, dass dies mit ihrer gemeinsamen Fahrt zu tun hatte, und sie wollte das Gespräch beenden, aus seinem Leben verschwinden, nicht noch mehr Schaden anrichten. Er warf den Hörer auf den Tisch, und sie hörte, wie seine Schritte sich entfernten, und wiederlegte sie fast auf, doch dann lauschte sie weiter wie hypnotisiert – da hatte sich im Gewebe von Samis Privatleben ein Spalt aufgetan, ein seltenes Guckloch, und alles zog sie dorthin, schau, so sind sie, wenn sie unter sich sind, dachte sie, ohne uns, wenn es denn wirklich »ohne uns« ist, wenn sie überhaupt so etwas wie ein »ohne uns« haben.
Da hörte sie einen wilden, bitteren Schrei, sie konnte nicht ausmachen, ob von Sami oder von dem anderen Mann, danach Geräusche, zwei heftige Schläge, als applaudiere jemand, oder wie Ohrfeigen, und dann eine Stille, aus der das dünne und verzweifelte Weinen des Kindes drang.
Ora stützte sich ermattet auf den Küchentisch. Warum nur habe ich ihn noch mal anrufen müssen, dachte sie, was war das für eine Dummheit, was hab ich mir bloß dabei gedacht? Dass er mich, nachdem er mich zum Gilboa und zurück gefahren hat, auch noch nach Tel Aviv chauffieren kann? Fehler über Fehler, was ich auch tu.
Da war seine Stimme wieder, erschrocken und brüchig an ihrem Ohr. Jetzt sprach er hastig und flüsterte fast. Er wollte ihr genaues Ziel in Tel Aviv wissen. Ob es ihr etwas ausmache, wenn sie auf dem Hinweg bei einer Adresse vorbeifahren würden, im Süden der Stadt, und da etwas abgeben. Sie kam durcheinander: Sie war drauf und dran gewesen, alles abzusagen, lass es, Sami, dieser Tag heute läuft für uns beide nicht gut, es ist besser, wenn wir ein bisschen auf Abstand gehen. Doch sie spürte, dass er sie wohl sehr brauchte, und in seiner Bedürftigkeit bot sich jetzt die Chance, etwas gutzumachen, und sie schwor sich, mit ihm bloß bis nach Tel Aviv zu fahren und von dort nach Galiläa ein anderes Taxi zu nehmen, koste es, was es wolle. Und er fragte erschrocken, ist das in Ordnung, Ora? Kann ich kommen? Bist du schon fertig? Sie hörte, wie der Streit hinter ihm wieder aufflammte, im Grunde war es wohl schon kein Streit mehr: Der andere Mann dort schrie, aber vielleicht schrie er nur noch vor sich hin, und eine Frau klagte, es klang wie ein verzweifeltes Gebet – Ora dachte, vielleicht ist es doch In’am –, sie stieß ein langes Jaulen der Niederlage aus, und für einen Moment mischte sich dahinein ein fernes Klagelied, das Ora schon einmal gehört hatte. Jahrzehnte hatte sie nicht mehr an das Weinen der arabischen Krankenschwester gedacht, die mit ihr, Avram und Ilan auf der Isolierstation des kleinen Jerusalemer Krankenhauses gewesen war.
Ora fragte Sami, ob sie sich lange im Süden von Tel Aviv aufhalten würden. Sami sagte, fünf Minuten, und als er ihr Zögern spürte, drängte er sie ausdrücklich, was sonst nicht seine Art war, bitte, tu mir den Gefallen. Sie erinnerte sich an das Versprechen, das sie ihm vor etwa vier Stunden gegeben hatte. Welch aufgeblasene Feierlichkeit pochte jetzt in ihr, Ora als eine der sechsunddreißig Gerechten unter den Völkern, jetzt mach mal halblang. Ist in Ordnung, sagte sie.
Danach trug sie ihren gepackten Rucksack auf den Gehweg hinunter, und wie in einem Reflex kehrte sie noch mal ins Haus zurück und schnallte sich jetzt Ofers Rucksack auf, der ebenso fertig gepackt gewartet hatte, bis er verschmäht worden war, und die ganze Zeit verschloss sie die Ohren vor dem unaufhörlich klingelnden Telefon, denn sie fürchtete, es könnte Avram sein, der sich vor seiner eigenen Courage fürchtete und anrief, um seine Seele zu retten und sie zu bitten, doch nicht zu kommen, und vielleicht wollte auch Sami einen Rückzieher machen. Wie eine Fliehende rannte sie die Treppen hinunter, die Treppen, auf denen vielleicht schon morgen, vielleicht in einer Woche, vielleicht auch überhaupt nie, aber sie wusste, dass es doch passieren würde, daran hatte sie keinen Zweifel, die Überbringer der Nachricht stehen würden. Sie kamen in der Regel zu dritt, hieß es. Schweigend würden sie diese Stufen hochkommen. Unmöglich. Und trotzdem, über diese Treppe würden sie kommen, über diese Stufe hier und diese Stufe dort,
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