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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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sich ohne auch nur zu zucken ergeben, und deshalb wird sie nicht da sein, wenn sie kommen, um es ihr zu sagen, sie wird einfach nicht hier sein, und dann wird das Paket an den Absender zurückgesandt, die Räder der Maschine werden für einen Moment stillstehen, sich vielleicht sogar etwas zurückdrehen müssen, ein oder zwei Zentimeter, mehr nicht. Dabei war völlig klar, dass die Nachricht gleich danach noch einmal losgeschickt würde, da machte sie sich nichts vor, die werden nicht aufgeben. Die dürfen diesen Kampf nicht verlieren, summte ein Metallfaden in ihrem Hirn, denn eine Niederlage, und sei es gegenüber einer einzigen Frau, würde den Zusammenbruch des gesamten Systems bedeuten, wo kämen wir denn hin, wenn auch andere Familien diesen Gedanken übernehmen und sich weigern würden, vom Militär die Nachricht vom Tod ihrer Lieben entgegenzunehmen? Deshalb hat sie gegen die keine Chance, das weiß sie, überhaupt keine Chance, aber wenigstens ein paar Tage wird sie kämpfen, nicht lange, nur achtundzwanzig Tage, nicht einmal einen ganzen Monat, das war möglich, das stand in ihrer Kraft: Und im Grunde war nur das möglich, im Grunde stand nur das in ihrer Kraft.

    Wieder saß sie in Samis Taxi, wieder auf der Rückbank, und neben ihr saß ein Kind, sechs oder vielleicht sieben Jahre alt, auch Sami kannte sein genaues Alter nicht, ein dünner arabischer Junge, der vor Fieber glühte. Der Sohn von einem bei uns, sagte Sami, um weitere Fragen abzublocken. Von einem bei uns, mehr sagte er nicht, als sie wieder fragte. Man hatte Sami gebeten, ihn nach Tel Aviv zu bringen, zu einem Ort im Süden der Stadt, zu seiner Familie. Zu Samis Familie oder zu der des Jungen? Auch das blieb unklar, und Ora beschloss, nicht mit weiteren Fragen zu nerven. Sami sah mitgenommen und erschrocken aus, eine seiner Wangen war angeschwollen, als hätte er Zahnschmerzen. Er fragte sie noch nicht einmal, warum sie zu so später Stunde zwei Rucksäcke durch die Gegend fuhr. Ohne den Glanz der Neugier in den Augen wirkte er leblos, beinah wie ein anderer Mensch, und sie verstand sofort, es hatte keinen Sinn, die Sache mit der Fahrt zum Gilboa noch einmal aufzuwärmen. Im Dunkel des Taxis erkannte sie die Sachen, die der Junge trug: Die Jeans hatte früher mal ihr Adam getragen, mit dem Bugs-Bunny-Flicken auf den Knien, und ein uraltes T-Shirt von Ofer mit dem Wahlslogan von Schimon Peres. Die Sachen waren ihm zu groß, Ora hatte den Eindruck, er trug sie heute zum ersten Mal. Sie beugte sich vor und fragte, was ihm denn fehle. Sami sagte, der Junge sei krank. Sie fragte nach seinem Namen, und Sami sagte kurz, Rami, nenn ihn Rami. Sie fragte Ra’ami oder Rami? Wieder fertigte er sie kurz ab: Rami.
    Hätte er mich nicht für diese Fahrt gebraucht, er wäre nicht gekommen. Jetzt lässt er seine Wut auf die, die bei ihm zu Hause randaliert haben, an mir aus. Für einen Moment tröstete sie sich damit, dass sie Ilan bei nächster Gelegenheit erzählen würde, wie Sami sie behandelt habe. Den möcht ich sehn, wie er bei Ilan den Helden markiert. Sie wusste, Ilan würde ihn um ihretwillen zusammenstauchen, ihm vielleicht sogar kündigen, um ihr zu beweisen, wie sehr er sich ihr noch immer verpflichtet fühlte und sie beschützte, da richtete sie sich ruckartig auf und zuckte mit den Schultern, warum holte sie sich denn Verstärkung bei Ilan? Das war doch eine Sache zwischen Sami und ihr. Ilans offiziellen ritterlichen Schutz brauchte sie nicht. Nein, danke.
    Ihr Körper sackte wieder in sich zusammen, und für einen Augenblick zitterte ihr Gesicht und sie konnte es nicht stoppen, denn ihrVerlassensein durchfuhr sie, nicht die Einsamkeit und die Kränkung, sondern die Trennung selbst, die schiere Trennung, der Phantomschmerz des leeren, von Ilan geräumten Platzes an ihrer Seite. Im Dunkeln sah sie ihr Spiegelbild im Fenster des fahrenden Wagens und spürte in unbekannter Schärfe die Traurigkeit ihrer Haut, die schon so lange nicht mehr wirklich geliebt, und ihr Gesicht, das schon so lange von niemandem mehr mit jener Liebe betrachtet worden war, die Schicht um Schicht im Laufe der Jahre wächst. Diesen Typ, Eran, der ihr den Job für das Museum zur Verewigung Israels in Nevada besorgt hatte, der siebzehn Jahre jünger war als sie, ein meteorähnlich aufgestiegenes Computergenie, überquellend von Start-ups – der Avram von damals hätte ihn Raubebald-Eilebeute genannt –, sie wusste noch nicht einmal, was er für sie selbst bedeutete, war

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