Eine Frau in Berlin
gelingt die Trikolore; denn auch die Franzosen sind Sieger: Einfach blau und weiß und rot, drei Streifen senkrecht aneinandergesteppt, und fertig. Für das Rot nehmen die meisten Näherinnen Inletts oder Nazifahnenreste. Lakenreste für Weiß finden sich leicht. Problem ist auch hier das Blau. Ich sah, wie man Kinderkleider und Tischdecken dafür zerschnitt. Die Witwe hat für Hammer, Sichel, Sowjetstern eine alte gelbe Bluse geopfert. Nach ihrem Lexikon ist auch der britische Union Jack zusammengefummelt worden; nur, daß er nicht flattert, sondern wie ein Brett von der Fahnenstange absteht – steif durch etliche Meter Wäschelitze, die auf den Untergrund aus blauem Schürzenstoff aufgesteppt sind, um die roten Diagonal- und Kreuzstreifen festzuhalten.
Sowas ist auch nur in diesem Lande möglich. Ein Befehl erging – ich weiß nicht, woher – , daß mit den Fahnen der vier Sieger zu flaggen sei. Und siehe da, die deutsche Hausfrau zauberte aus dem Beinah-Nichts diese Fahnen. Wäre ich Andenkensammler aus Siegerland, so würde ich nachher herumgehen und diese wunderlichen Fetzen, so unterschiedlich in Farbe, Form und Stoff, als Kuriositäten einsammeln. Überall in unserer Straße kamen im Lauf des Nachmittags rührend schiefe, verschossene, puppenhafte Läppchen an den Häusern zum Vorschein.
Gegen 17 Uhr erschien unerwartet bei mir Ilse R., die ich vor beinah zwei Wochen in Charlottenburg besucht habe. Sie kam den weiten Weg daher, und sogar auf hohen Absätzen, da sie keine anderen Schuhe hat, feine Dame, die sie einmal war. Sie kam mit einem Plan. Ihr Mann kennt einen Ungarn, den es kurz vor dem Krieg nach Deutschland verschlagen hat. Der Ungar hat, so sagt sie, einen ganzen Packen US-Dollars. Damit will er etwas gründen. Am lohnendsten scheint ihm ein Verlag, in dem er Zeitungen, Zeitschriften und Bücher zu publizieren gedenkt. Denn, so behauptet er, alle alten Verlage seien tot, da sie ja mit den Nazis paktierten. Also gehört jetzt dies ganze Feld dem Ersten, der mit einer weißen Weste aufkreuzt und Papier auftreibt. Mich wollen sie dazu haben, weil ich Verlagstraining habe und einen Umbruch machen kann. Ich kenne den Ungarn nicht, hab nie zuvor von ihm gehört, halte das Ganze für Wind. Aber vielleicht irre ich mich. Jedenfalls habe ich zugesagt. Sobald die Firma steht, würde ich eine Arbeitsbescheinigung bekommen – und damit Karte II und 500 Gramm Brot am Tag statt 300 Gramm. Nicht auszudenken!
Während Ilse bei mir war, kam die Witwe hinzu. Wir schwatzten zu dritt wie ein Damenkränzchen. Bloß Kaffee und Kuchen fehlten, ich hatte nichts anzubieten. Trotzdem waren wir alle drei recht lustig, übertrafen einander in puncto Schändungshumor.
Stiller Abend für mich, verschönt durch das Radiogerät, das ich den Dachdeckern abkämpfte. Hab aber bald wieder abgedreht. Nach Jazz, Enthüllungen, Heinrich Heine und Humanität kamen Lobsprüche auf die Rote Armee, die mir denn doch allzu überzuckert waren. Die sollten lieber gar nichts sagen oder es offen aussprechen: »Strich drunter, und nun ein neues Blatt.«
Sonntag, 3. Juni 1945
Stiller Morgen, heiße Sonne. Die armseligen, hausgemachten Fähnchen tupfen die Straße bunt. Ich püttjerte in der Wohnung herum, kochte auf der immer wieder versagenden elektrischen Heizplatte meine Graupensuppe. Noch zweimal Suppe, und die Graupen sind weg. Fett hab ich gar keins mehr; es gab noch keine Zuteilung. Doch sagte man mir im Laden, daß russisches Sonnenblumenöl im Anrollen sei. Und ich sah die weiten fettgoldenen Sonnenblumenfelder der Ukraine. Schön war's ja.
Nach dem Essen folgte mein zweiter Marsch nach Charlottenburg, quer durch das dunstige, verödete Berlin. Meine Beine bewegen sich ganz mechanisch. Ich bin wie eine Gehmaschine.
Bei Ilse und ihrem Mann traf ich den Ungarn; wirklich ist er von wildem Gründungsdrang erfüllt. Ein schwärzlicher Typus mit viereckiger Stirn, in frisch geplättetem Hemd und so gut genährt aussehend, daß ich ihm seine Dollars glaube. Er hielt in ziemlich brüchigem Deutsch einen Vortrag darüber, daß er als erstes eine Tageszeitung zu gründen gedenke. Dies künftige Weltblatt möchte er Die neue Tat nennen. Bei uns ist eben jetzt alles neu. Wir diskutierten über Art und Richtung des Blattes. Ein Zeichner war auch dabei; er hat bereits den Zeitungskopf entworfen, sehr keck.
Außerdem will der Ungar mehrere Zeitschriften gründen, eine für Frauen, eine für die reifere Jugend – Blätter zur demokratischen
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