Eine Frau in Berlin
Regenmantel gehüllten Siebzehnjährigen hinein. Dort liegt er noch. Gerade war die Mutter hingegangen, Flieder auf die Grabstelle zu bringen.
Von den Russen haben weder Mutter noch Tochter etwas abbekommen. Die vier Treppen zu ihrer Wohnung schützten; zudem ist das Treppengeländer vom dritten Stock ab zerbrochen, man glaubt nicht, daß höher noch jemand haust. Hilde berichtete, daß bei ihnen im Keller in der Eile auch eine aufgeschossene Zwölfjährige »mit verschlissen« wurde. Zum Glück war ein Arzt in Reichweite, kam ihr nachher zu Hilfe. Einer anderen Frau im Haus wurde von einem durchbrausenden Russen ein dreckiges Taschentuch hinterlassen, in das allerlei Schmucksachen eingeknotet waren – ein Goldschatz, über dessen Fabelwert im Hause die tollsten Gerüchte umgehen.
Das alles erzählt Hilde ganz unbewegt. Sie hat ein anderes Gesicht bekommen, sieht aus wie versengt. Sie ist auf Lebenszeit gestempelt.
Zurück machte ich einen Umweg, um meine Freundin Gisela aufzusuchen. Immer noch hat sie die zwei verlassenen Breslauer Exstudentinnen bei sich. Drei schmutzige Mädchen; sie hatten am Morgen etliche Stunden lang in der Frauenkette Trümmer abtragen müssen. Die blonde Hertha lag mit glührotem Kopf auf dem Sofa. Die Ärztin, die nebenan wohnt, hat auf Eierstockentzündung diagnostiziert. Zudem ist Hertha mit hoher Wahrscheinlichkeit schwanger. Sie bricht am Morgen das bißchen Trockenbrot aus. Der Mongole, der sie aufbrach, hat sie viermal hintereinander gehabt.
Zu Mittag hatten die drei Frauen eine dünne Mehlsuppe. Ich mußte mitessen, um sie nicht zu kränken. Auch hatte ich argen Hunger. Gisela schnippelte uns Brennnesseln hinein, die in den Balkonkästen wild wachsen.
Heimzu, und hinauf in meine Dachwohnung. Bild unterwegs: Schwarzer Sarg, stark riechend, da geteert, auf einem Handwagen mit Strippe festgezurrt. Mann und Frau schoben; ein Kind hockte obendrauf. Anderes Bild: Ein Müllwagen der Stadt Berlin. Sechs Särge darauf; einer diente den Müllkutschern als Sitzbank. Sie frühstückten im Fahren, reichten eine Bierflasche herum, hoben sie reihum zum Mund.
Samstag, 2. Juni 1945
Ich habe Besuch bei dem einen der Dachdecker gemacht und schlankweg an seiner Tür erklärt, daß ich gekommen sei, den Radio-Apparat, der aus meiner Dachwohnung verschwunden sei, wieder abzuholen. Zuerst tat der gute Mann ahnungslos: Er wisse von keinem Apparat, ich müsse mich irren.
Ich ließ einen schmutzigen Trick spielen: Zeigte ihm den alten Zettel vom Rathaus vor, auf dem zu lesen steht, daß ich dem Ortskommandanten als Dolmetscherin zugewiesen bin, und behauptete, daß mir jederzeit ein Russe zu eventueller Haussuchung zur Verfügung stünde. Worauf dem Mann die Erinnerung sogleich wiederkehrte: Ach ja, es könnte sein, daß sein Kollege, übrigens hier im gleichen Hause wohnhaft, den Apparat, der herrenlos herumgestanden, mitgenommen habe, um ihn sicherzustellen. Er hieß mich warten, kletterte eine Treppe höher und kehrte drei Minuten später mit dem – eingepackten, noch verschnürten – Apparat zurück. Sogar das Packpapier haben sie, wie ich gleich sah, aus der Dachwohnung genommen.
Die Macht als Druckmittel. Ich habe mit Hilfe eines Papierchens Macht vorgetäuscht. Der Trick zog prompt. Ich bin überzeugt, daß ich anders das Radio nicht zurückbekommen hätte. Trotzdem blieb ein klebriges Gefühl. Aber vermutlich bewegen sich mit Hilfe solcher Tricks die meisten Lebensmechanismen weiter – Ehen, Firmen, Staaten, Heere.
Über Mittag lag ich auf dem Balkon der Dachwohnung in der Sonne. Dabei schaute ich gradenwegs in das Fenster gegenüber. Eine Frau trat dort die Nähmaschine und steppte rote und blaue Streifen aneinander. Schnitt dann aus einem weißen Lappen Kreise heraus, zackte die Ränder zu Sternen. Stars and Stripes. Das soll eine amerikanische Flagge werden. Auf der Treppe hat mich die Grindige schon gefragt, wieviel Sterne die amerikanische Flagge haben müßte. Ich wußte nicht genau, ob 48 oder 49, verwies die Grindige auf das Lexikon der Witwe. Eine mühselige Flagge für deutsche Handnäherinnen, mühselig schon in den Farben; noch mühseliger im Muster. Wie einfach dagegen die russische Flagge: man braucht nur von den alten Hakenkreuzfahnen, die sich in jedem unverbombten Haushalt finden, das weißschwarze Hakenkreuzmotiv abzutrennen; auf das Rot gilt es dann in Gelb Hammer und Sichel und Stern aufzunähen. Ich sah rührend krumme Hämmerlein und verbogene Sicheln. Am besten
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